Elsa Li

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Das Schrillen des Telefons ließ Anna zusammenzucken. Eine Woche war es nun her, als Anna in der Küche saß, den Kopf auf den Armen ruhend. Krank vor Sorge um ihren einzigen Freund hatte sie kein Auge zu tun können. Und wenn die Gerüchte stimmten, die über Nick im Umlauf waren ...

Bevor das Klingeln die anderen wecken konnte, nahm Anna den Hörer ab. „Hallo?", sagte sie leise.

Aus der anderen Leitung erklang ein Keuchen. „Gott sei Dank! Du bist es, Anna", sagte jemand schnell.

„Nick?", fragte Anna ungläubig und wurde kerzengerade.

„Anna, wir haben nicht viel Zeit", sagte der Junge. „Wir haben uns mit einem Funkgerät ins Telefonnetz gehackt und –"

„Alle sagen, du hättest die Piraten befreit. Bitte sag mir, dass es nicht wahr ist." Annas Stimme war leise aber bestimmt. „Nick, bitte sag mir, dass du das nicht getan hast."

Anna hörte, wie ihr Freund tief Luft holte. „Ich tu das Richtige", sagte er lediglich. Anna ballte ihre freie Hand zu einer Faust. Bevor sie etwas sagen konnte, begann Nick, hastig ins Funkgerät zu sprechen.

„Anna, wir brauchen deine Hilfe", sagte er. „Wir sind vor dem West-Tor von Foxtrot. Die Piratenjäger kommen."

„Geht es dir gut?" Annas Kehle war wie zugeschnürt.

„Jaja. Noch. Uns läuft die Zeit davon –"

„Uns?", wiederholte Anna. So bitter, so verletzt hatte sie sich noch nie gefühlt. „Dir und dem Dutzend Piraten, das du befreit hast?"

„Anna, bitte, hör mir zu!", flehte Nick laut. „Wir brauchen dich!"

„Was habe ich damit zu tun? Ich kann dir nicht mehr helfen."

„Samuel Schulz' Telegraph", erklärte Nick hastig. „Schick eine Nachricht in seinem Namen an alle Einheiten, dass wir in Richtung Norden unterwegs sind. Norden", wiederholte er deutlich.

Anna starrte die Schränke an.

„Annie?", fragte Nick leise, als keine Antwort kam.

Anna schluckte. „Nein."

„Anna, du verstehst das nicht. Sie haben uns in wenigen Minuten –"

„Nein." Annas Finger zitterten.

Rufe erklangen vom anderen Ende der Leitung. „Anna, ich flehe dich an", flüsterte Nick. „Bitte. Henry kann dir helfen –"

„Leb wohl, Nick", brachte Anna hervor. Dann nahm sie den Hörer vom Ohr, ignorierte die Rufe, die daraus hervordrangen, und legte auf.

Schlafen konnte sie in dieser Nacht nicht mehr.

Eine Woche später, als die Piraten gefasst und Nick längst tot war, erwachte Anna aus ihrem unruhigen Schlaf. Rufe hallten durch die Wohnung – und es waren nicht nur die üblichen Streitereien zwischen Tom und Samuel. Da waren noch andere Stimmen.

Anna stand auf, zog sich an und öffnete vorsichtig die Tür. Langsam ging sie zum Wohnzimmer. Durch den Türspalt sah sie Hans Sweenie, den obersten Piratenjäger Foxtrots, der mit besorgter Miene im Zimmer auf und ab ging. Maria saß am Küchentisch, sie hielt Sophie festumklammert. Beide sahen unheimlich verängstigt aus. Samuel stand hinter ihnen und hatte die Hände auf die Stuhllehne gestützt. Eine Frau, die Anna nicht sehen konnte, redete schnell und energisch auf die anderen ein.

„... ein Desaster. Wir müssen etwas unternehmen", sagte sie mit tiefer Stimme. „Wenn die Leute davon erfahren, wird es zu einer Massenpanik kommen."

16521 Band 1: Der Pirat, der Bär und der RegenWhere stories live. Discover now