Der 1. Drilling

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Anna konnte sich gerade noch an der Kante festkrallen. Der Anker zog an ihrem Fuß – wäre nicht genau in diesem Augenblick der Junge aufgetaucht und hätte ihre Handgelenke zu fassen bekommen, wäre sie kurzerhand in den Fluss gestürzt.

„Bleib ruhig", sagte der Junge und versuchte, sie hochzuziehen.

Anna keuchte auf. „Bitte, lass nicht los!"

Der Junge lachte atemlos. „Keine Sorge, Anna – zieh deinen Schuh aus." Annas Finger wurden immer rutschiger in seinen. Ihre Arme knackten übelkeitserregend. „Zieh deinen Schuh aus. Versuch, aus der Kette rauszukommen!"

„Was –?"

„Zieh deinen Schuh aus, Anna!"

Anna sah ein, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt war, sich darüber zu wundern, weshalb dieser Kerl ihren Namen kannte.

Sie schob langsam mit dem freien Fuß den Stiefel von ihrer Ferse. Mit großen Augen sah sie, wie er in die Tiefe fiel und sich im Nebel verlor – ihr Knie knackte unter dem Gewicht des Ankers. Jedes Gelenk schien aus der Pfanne springen zu wollen. Anna biss die Zähne zusammen. Sie schob an der Kette um ihren Knöchel.

„Es geht nicht!", brachte sie hervor.

„Anna, ich habe dich ganz sicher nicht gefunden, um dich jetzt ertrinken zu lassen!", sagte der Junge unter größter Anstrengung. „Mach schon!"

Die Kette rutschte über ihren Knöchel und der Anker fiel in den Fluss. Anna atmete auf. Mit der Hilfe des unbekannten Jungen zog sie sich hoch und brach keuchend auf dem Asphalt zusammen. „Oh Gott." Anna drehte sich auf den Rücken. Der Junge legte sich schweratmend zu ihr und einen Augenblick starrten beide einfach nur in den Himmel hinauf.

„Gut gemacht, Anna", lachte der Junge und klopfte ihr auf die Schulter.

„Wo sind die anderen beiden Piratenjäger?", fragte Anna atemlos.

„Ich habe ein paar Straßenkindern mit einem Kanister Wasser bestochen. Die rennen jetzt mit 'ner Spieluhr durch die ganze Stadt."

„Verflucht", wisperte Anna. „Oh Gott, ich muss hier weg! Ich muss sofort –" Anna schüttelte den Kopf. „Wer zum Teufel bist du?"

Der Junge half ihr, sich aufzusetzen und musterte sie. Als wollte er sich davon überzeugen, dass sie wirklich unversehrt war. „Henry", sagte er schließlich. „Ich bin Henry."

Anna starrte ihn an. Mit klammen Fingern griff sie nach seinem Handgelenk und drehte es langsam um. Ein schwarzes P erschien, als sie seinen Ärmel ein Stück hochschob. Ihre Stimme war kaum zu hören, als sie endlich die richtigen Worte fand. „Du bist der Pirat."

Er lachte. „Der Pirat? Das klingt zwar ganz nett, aber nein, ich bin ich nur ein Pirat." Henry stand auf und nickte zum Laster. „Wir sollten jetzt wirklich verschwinden."

„Woher kennst du mich?", fragte Anna und schaffte es ebenfalls auf ihre Beine. Jeder Knochen schmerzte. Wenn dieser Tag vorbei war, würde sie eine Ganzkörpertransplantation brauchen.

„Ich war ein Freund von Nick", erklärte der Pirat ruhig.

Anna biss die Zähne zusammen. „Ihr habt diese Bombe gezündet", zischte sie. „Unschuldige Menschen – Kinder! – sind gestorben, weil ihr –"

„Wir waren es nicht", sagte Henry bestimmt. Er sah sich um. „Anna, ich will ja nicht drängeln, aber das hier ist nicht der beste Ort, um diese Unterhaltung zu führen. Kannst du ein Flugzeug fliegen?"

„Was?", fragte sie überrumpelt.

„Ob du ein Flugzeug –"

„Ja, kann ich." Anna schüttelte den Kopf. „Aber wer soll es denn dann mit der Bombe gewesen sein?"

16521 Band 1: Der Pirat, der Bär und der RegenWhere stories live. Discover now