Der 3. Drilling

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Etwas stimmte nicht. Henry versuchte zwar, es sich nicht anmerken zu lassen, doch etwas stimmte nicht.

Auch Bri sah immer öfter auf ihre Armbanduhr. Zählte die Stunden. Zappelte mit ihren Beinen und kaute an ihren Fingern. Als sie am Hafen auf einem Steg zu Abend aßen, bekam sie kaum einen Bissen von der köstlichen Gumbo runter. Ihr Herz pochte von Minute zu Minute schneller und schneller.

„Ich schwöre dir, wenn du mir nicht bald sagst, was los ist, drehe ich durch", sagte Henry irgendwann und stellte die Schüssel auf den Steg.

„Wieso darfst du ADHS haben, aber ich nicht?", fragte Bri mit zugeschnürter Kehle. „Außerdem könnte ich dich das gleiche fragen."

Er zog die Augenbrauen zusammen. „Was meinst du?"

Sie seufzte. „ADHS ist –"

„Ich weiß, was ADHS ist", sagte er kopfschüttelnd. Er hob eine Augenbraue. „Und ich bin arrogant, ja?" Henry seufzte. „Außerdem ist alles in Ordnung mit mir."

Sie schüttelte den Kopf. „Nein. Ist es nicht. Was hat dein Vater gesagt?"

Er sah sie überrascht an. „Und du sagst, wir würden uns nicht kennen." Henry fuhr sich über die Augen. Schließlich sah er sich um. Zu viele Piraten waren im Hafen unterwegs. „Nicht hier."

Eine halbe Stunde später gingen sie den Flur im Rathaus zu seinem Zimmer entlang. Dort angekommen, setzten sie sich auf eines der Betten. Imo kugelte sich auf einer anderen Matratze herum, bis er in eine Decke eingewickelt war und nur noch sein dicker Kopf hervorlugte.

Henry brauchte lange, bis er sprach. „Er will, dass Max in Whiskey bleibt." Henry schüttelte wütend den Kopf. „Weil er ihn nicht hier haben will, wenn die Sache den Piratenjägern ernst wird."

Bri verstand nicht ganz. „Dann will dein Vater wohl, dass er in Sicherheit ist –"

„Nein", sagte Henry, nach wie vor zornig. „Er sieht ihn als Last an. Dabei ist Max ..." Er ließ die Schultern hängen. „Ganz Septentrio denkt, Max wäre ... zurückgeblieben oder sowas, aber alles, was mit ihm los ist, ist, dass er nicht hören kann. Und um sich mit ihm zu verständigen, muss man nun mal die Gebärdensprache lernen – und ... Ich verstehe ja, dass mein Vater wenig Zeit hat. Aber Max ist sein Sohn, verdammt noch mal."

„Er hat nie die Gebärdensprache gelernt?" Das Bild von Levi Fitz–Becket wurde dadurch keineswegs sympathischer.

„Klar kann er sie, aber ... Er sieht nicht ein, alles zweimal erklären zu müssen." Er schüttelte wütend den Kopf. „Ich fasse es einfach nicht. Mir ist dieser Krieg ja auch wichtig, aber sollte die Familie nicht wichtiger sein? Wir haben schon Robin verloren, da muss er mir nicht noch meinen letzten Drilling wegnehmen."

Bri wusste nichts zu sagen. Sie nahm Henrys Hand und drückte sie. „Es wird schon alles wieder gut." Miststück, dachte sie, als ihr aufging, dass für Henry Fitz–Becket gar nichts wieder gut werden würde. Ihretwegen.

Henry verschränkte ihre Finger mit seinen und begutachtete ihre Hände. „Rui wird sich damit nie rumschlagen müssen, er ist zu jung. Aber Max, er ... Es ist einfach nicht fair für ihn. Er versucht alles, um Dad stolz zu machen und ..."

„Ah, also der Kampf um das Erbe?", fragte Bri sarkastisch. Sie seufzte. „Aber Max war nicht immer taub, oder?"

Henrys Blick wurde ausdruckslos. Bri verfluchte Levi Fitz–Becket dafür, diesen Teil von Henrys Leben wieder aufgelebt haben zu lassen, indem er Max' Taubheit zum Thema machen musste. Bri mochte es nicht, Henry so besorgt und müde zu sehen, weil das doch ihr Part sein sollte. „Um uns zum Reden zu bringen, haben die Piratenjäger ..."

„Du musst es nicht erzählen", sagte Bri schnell. Eigentlich nur, weil sie es wirklich nicht wissen wollte.

„... ihm Regenwasser in die Ohren ..."

Bri starrte ihn an. Ja, die Piratenjäger waren grausam. Aber ... es musste doch Grenzen geben. Oder nicht? „Ihr wart Kinder", hauchte sie fassungslos.

Henry schnaubte. „Erzähl das deiner Familie." Sobald der Satz gesprochen war, weitete Henry die Augen. „Tut mir leid, ich meinte nicht –"

„Ist schon gut", sagte Bri und sah ihn fest an. „Es stimmt." Sie holte tief Luft. „Ich hasse meine Schwestern so sehr, Henry. Und ich glaube nicht, dass es normal ist, sie so zu hassen", fügte sie beinahe ängstlich hinzu.

Aber es stimmte. Helen und Mia waren nicht die großartigen Menschen, diese Ideale an Schwestern, die sich Bri in den Jahren der Einsamkeit erschaffen hatte. Sie waren rücksichtslos und opportunistisch. Briseis hatte das Gefühl, in ihrer Gegenwart nur das Zahlenmädchen zu sein, das zufällig auch noch Henry Fitz–Becket kannte. Sie war ein Mittel zum Zweck. Was sie aber nicht war, war die Schwester Briseis. Je länger sie darüber nachdachte, desto mehr wurde Bri klar, dass sie das schon immer gewesen war. Für jeden. Für die Bandowskis, für die Schulz'. Ja sogar für Nick Sloan, der einfach einen Freund gebraucht hatte, als niemand sonst in Foxtrot etwas mit ihm zu tun haben wollte. Doch wer wollte die Person Briseis in seinem Leben?

Wer konnte schon sagen, was sie für Henry war. In wenigen Minuten würde Briseis Bandowski aber ohnehin dafür sorgen, dass sie auch für ihn nichts weiter darstellte, als eine weitere Feindin.

„Wie ich sagte, Familie ist keine Frage des Blutes", sagte Henry leise. „Nur, weil wir mit ihnen verwandt sind, müssen wir sie nicht zwangsweise lieben."

Bri schloss die Augen und nickte. „Dann habe ich gar keine Familie", sagte sie erstickt.

Henry sah sie verletzt an. Sogar Imo, der zu ihren Füßen lag, schien sie beleidigt aus seinen großen Augen anzusehen. „Und was sind wir?", fragte Henry. „Zufallsbekannte?"

„Äh ... hoffentlich. Sonst haben die Verschwörungstheorien meiner Tante doch noch Hand und Fuß." Henry sah auf. Bri schüttelte schnell den Kopf. „War ein Witz, Henry Fitz–Becket. Ich glaube dir ja, dass du mich nicht entführt hast, um meine Schwestern zu erpressen. Denn wie war das noch?" Sie stieß ihn lachend mit der Schulter an. „Mit mir kann man ja niemanden erpressen."

Henry musterte sie. „Danke."

„Wofür?" Ein Kloß bildete sich in ihrem Hals.

„Dafür, dass dir die Seiten trotz allem egal sind." Er sah sie an. Sekunden verstrichen.

Erzähl es ihm. Er wird dir helfen. Nun mach schon. Sie sah ihn an und spürte ihre Kehle eng werden.

Er schüttelte den Kopf. „Brisi, verdammt, was ist?"

„Henry, ich – " Die Foxtroter Wasserwerke. Wenn du Henry nicht auslieferst, werden sie alle sterben. Ein Rückzieher wäre egoistisch. Aber Bri war ihr ganzes Leben lang egoistisch gewesen. Warum sollte sie ausgerechnet jetzt damit aufhören? Sie seufzte und legte ihren Kopf an seine Schulter, um ihn nicht länger ansehen zu müssen, und Henry zog sie zu sich.

  „Ist schon gut", murmelte er und gab ihr einen Kuss auf den Scheitel. „Du musst es nicht erzählen."

Bri kniff die Augen zusammen und vergrub ihr Gesicht an seiner Brust.

„Heute gibt es ein Konzert in einer Bar am Hafen", murmelte Henry irgendwann und fuhr ihr über den Rücken. „Die sind ziemlich gut. Willst du hingehen?"

Sie schüttelte langsam den Kopf. „Lieber nicht. Wir sollten ..." Tu es nicht! Sag ihm, du musst gehen, dann gehst du zur Gruppe zurück und sagst ihnen, dass du Henry nicht finden konntest! Sag ihnen irgendetwas. Aber tu ihm das nicht an, bitte, schrie die Stimme in ihr. Doch Bri brachte die Stimme zum Schweigen. „Willst du die Kellertunnel unter Echo mal sehen?", fragte sie ganz beiläufig und monoton.

In diesem Moment verabscheute sie sich so sehr wie noch nie in ihrem ganzen Leben.

Henry grinste breit. „Wie könnte ich da Nein sagen?"

Bri spürte ihr Herz schneller schlagen, während Henry sie hochzog. Was tat sie hier bloß? Henry würde sie nie verraten, da war sie sich ganz sicher. Er vertraute ihr bedingungslos. Und Bri nutzte dieses Vertrauen aus.

Briseis. Tu das nicht. Bitte.

16521 Band 1: Der Pirat, der Bär und der RegenWhere stories live. Discover now