November

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Briseis fühlte sich benommen. Zu sechzig Prozent war das wohl auf den schweren Seegang zurückzuführen, der herrschte. Gut, wahrscheinlich zu siebzig. Sie starrte die Wand der Sally an und hoffte, sich nicht übergeben zu müssen.

Henry. Wo war Henry? Lebte er? Hatte Briseis einen Fehler gemacht, als sie sich gemeldet hatte? Ihre Hände schmerzten. Die Fesseln saßen zu fest. Sie fühlte sich schlichtweg zum Kotzen.

Nachdem die Piratenjäger hunderte von Piraten erschossen und Santiano dem Erdboden gleichgemacht hatten, hatten sie Briseis auf dieses Schiff gebracht und weggesperrt. Die Stunden verstrichen. Durch das Bullauge an der Wand sah sie nur das graue Meerwasser. Sie wusste, wo diese Reise enden würde. In November. Ihr Ziel.

Doch so hatte Briseis sich das eigentlich nicht vorgestellt.

Die Tür sprang auf und Adrian Zimmerman, gefolgt von zwei Piratenjägern, lehnte sich in den Türrahmen. „Da wir ja bald eine Familie sind ..." – Briseis wurde ihre gesamte Willensstärke abverlangt, sich nicht zu übergeben – „... solltest du raufkommen." Er lächelte. „Deine Schwester würde wollen, dass du ein wenig Kulturgut mit auf den Weg bekommst."

Briseis schloss die Augen und legte ihren Kopf an die Wand. „Nein, danke."

Doch die beiden Piratenjäger zogen sie auf die Füße und durchschnitten ihre Fesseln. Dankbar rieb Briseis ihre Handgelenke und folgte Adrian widerstrebend an Deck. Die Sally steuerte direkt auf eine riesige Stadt zu. Briseis öffnete den Mund.

November war gigantisch. In den südlichen Städten erzählte man sich, dass die Häuser riesige Kolosse waren – doch das war untertrieben. Das Einzige, was Novembers Wolkenkratzer noch überragte, waren die Bäume gleich dahinter in den Zwischenstädtischen Gebieten. Mächtig thronte die Hauptstadt der Sechsundzwanzig vor ihnen auf. Im Hafen lagen tausende Schiffe vor Anker und durchbrachen das Spiegelbild der Stadt. Die berüchtigte Werft lag gleich auf der linken Seite, fünf Schiffe, die selbst einige der Hochhäuser an Höhe übertrafen, lagen in den Becken und warteten auf ihre Jungfernfahrt. Auf der Spitze des großen Berges, auf dem November lag, erhob sich ein riesiges Gebäude aus Glas, auf dessen Türmen die Flaggen der Sechsundzwanzig Städte wehten.

„Das ist das Rathaus", erklärte Adrian neben ihr, der Briseis' eingeschüchterten Blick mit einem Lächeln registrierte.

Briseis schluckte schwer. „Was werdet ihr mit mir machen?" Ihre Stimme klang zu ihrer eigenen Überraschung fest. „Ich kenne die Zahlen nicht." Sie schloss die Augen. „Vielleicht ... haben Helen und Mia vergessen, das zu erwähnen, aber ... ich kenne die Zahlen nicht."

Adrian musterte sie eine Weile. „Darum geht es hier auch nicht."

Sie zog die Brauen zusammen. „Worum dann?"

Er verschränkte die Hände auf der Reling. „Du wurdest zum Tode verurteilt, Briseis Bandowski. Du bist hier um zu sterben."

Sie waren tief unter der Erde, tief unter dem Rathaus aus Glas. Hunderte, wenn nicht tausende Zellen führten von den Gängen der Gefängnishallen ab. Eine Gruppe von Piratenjägern ersten und zweiten Ranges eskortierte Briseis an allen Seiten, Adrian Zimmerman ging vorweg. Immer wieder waren aus Räumen gedämpfte Schreie zu hören. Die Piratenjäger beachteten es nicht weiter, doch Bri blieb immer wieder stehen und lauschte angespannt, bis sie weiter gezogen wurde.

Das war also das Gefängnis, indem damals Augustin Bandowski sowie Henry und seine Brüder gefangen gehalten worden waren. Nicht unbedingt eine Tradition, in die Bri sich hatte einreihen wollte.

Irgendwann blieb Adrian stehen und ein Piratenjäger öffnete eine schwere Stahltür. Briseis wurde hinein gestoßen und sie wollten die Tür zuziehen.

„Halt, ich will sofort Helen und Mia sehen!", rief sie wütend und trat einen Schritt hervor. „Verflucht nochmal, ich bin eine Bürgerin der Sechsundzwanzig Städte, ich habe das Recht –"

„Das Recht hast du verloren, als du Henry Fitz–Beckets Leben gerettet hast", unterbrach Adrian sie kalt. „Schließt die Tür."

„Aber ich –"

Es war zu spät. Eine widerwärtige Stille machte sich um Bri herum breit. Sie sah sich um. Eine Pritsche aus Holz ohne Matratze. Kein Fenster. Eine Toilette. Ein Wasserhahn. Mehr erwartete sie in dieser winzigen Zelle nicht.

Mit zittrigen Knien ließ Briseis sich an der feuchten Wand hinabsinken. Sie vergrub ihr Gesicht in den Händen. Adrian Zimmermans Worte hallten in ihrem Kopf wider. Du bist hier um zu sterben ...

Stunden, Tage – wer weiß, vielleicht auch Wochen? – vergingen, Briseis konnte es nicht sagen. Die Glühlampe an der Decke brannte durchgehend und da es kein Fenster gab, wusste Bri auch nicht, wie spät es war. Das Wasser war trüb und schmeckte nach Chlor. Zweimal wurde eine ekelhafte braune Paste durch die Klappe in der Tür geschoben – ein zäher Klumpen, der wohl eine Mahlzeit darstellen sollte.

Um sich zu beschäftigen summte Briseis immer wieder die Melodie mit den fünf Tönen vor sich hin. So lange, bis aus ihrer Kehle nur noch ein Krächzen kam. Doch auch dann hörte sie nicht auf. Obwohl sie am Ende ihrer Kräfte war, konnte Briseis nicht schlafen. Sie lag auf der harten Holzpritsche und dachte an Essen. Summte weiter. War durstig ... summte ... dachte an Henry und Imo ... summte ... daran, wie sehr sie beide vermisste ... summte ... daran, dass sie noch lebten ... an Henry ...

Als die Tür mit einem lauten Quietschen aufgerissen wurde, hätte Briseis beinahe einen Herzinfarkt erlitten. Doch sie blieb liegen und sah nur hoch zu den Personen, die vor der Tür standen.

Schockiert, wütend und unglaublich erleichtert zugleich starrte Briseis die junge Frau an, die vor den anderen Piratenjägern stand. Als sie sprach, klang Briseis' Stimme schwach und hilfesuchend.

„Helen?"

16521 Band 1: Der Pirat, der Bär und der RegenOù les histoires vivent. Découvrez maintenant