Briseis' Blut

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„Wie wahrscheinlich ist es, dass er einen – Dingens-irgendwas-Schock bekommt?", fragte Anna undeutlich, während Blut aus ihrem Arm in Henrys floss.

„Eine hämolytische Transfusionsreaktion", verbesserte Selma und fühlte Henrys Puls.

Anna saß auf einem Stuhl gleich neben Henry. Sie spürte, wie sie mit jedem Tropfen Blut, den sie weitergab, schwächer und schwächer wurde. Ihr blieb nur zu hoffen, dass Henry mit jedem Tropfen stärker und stärker werden würde.

„Nicht sehr wahrscheinlich", murmelte Selma und schüttelte den Kopf. „Was machst du nur hier, Kind?"

Anna holte tief Luft. „Das wüsste ich auch gern. Wie geht es Oli?", fragte sie leise.

Selma verschränkte die Arme vor der Brust. „Gut. Immer noch gut. Er darf sich nach wie vor nicht groß anstrengen, weil sein Herz nicht alles mitmacht – aber er ist glücklich." Sie schnaubte. „Solange er sich von den Bauernkindern fernhält."

„Glaub mir, die werden es nicht wagen, nochmal ..." Anna schüttelte den Kopf, wobei sie fast zur Seite wegkippte.

Selma hielt sie fest. „Ich glaube, das reicht jetzt."

Anna griff nach Selmas Hand, die den Schlauch entfernen wollte, und schüttelte energisch den Kopf. „Nein." Annas Stimme ließ keine Widerworte zu.

„Ich glaube das einfach nicht", murmelte Selma. „Leg dich hin." Vorsichtig, um den Schlauch an Ort und Stelle zu lassen, half sie Anna, sich neben Henry zu legen. Imo saß nach wie vor mucksmäuschenstill da und sah Henry eindringlich an. „Oliver hat mir von Samuel erzählt. Und Maria und den Kindern", berichtete Selma emotionslos.

Anna stützte sich auf ihre Ellenbogen. „Es tut mir so leid", wisperte sie. Sie erzählte ihrer Tante von der Südpiratenkoalition und Elsa Lis Versuch, das Ganze Anna anzuhängen. „Ich wollte nie, dass Samuel, Maria oder deine Enkel meinetwegen –"

„Hör auf!", sagte Selma ernst und hob einen Zeigefinger. „Mach dich nicht größer als du bist, das hat nichts mit dir zu tun."

Anna lachte erschöpft. „Dieser Satz hat mir so gefehlt." Sie seufzte. „Schade nur, dass die anderen das nie verstanden haben."

Selma setzte sich zu ihr und strich ihr die verklebten Haare aus der Stirn. „Du weißt, dass dich jeder einzelne, der jemals hier war, über alles liebt." Sie seufzte. Zum vermutlich hundertsten Mal an diesem Tag. „Aber du bist nun einmal eine Person, auf die es aufzupassen gilt." Die alte Zwischenstädterin stand auf. Jegliches Mitgefühl war aus ihrem Gesicht gewichen, als sie Henry anblickte. „Deshalb sind wir auch so entsetzt, dass du ..."

„... den hübschesten Piraten ganz Septentrios angeschleppt hast?", lachte Anna. Sie weitete teils erschrocken, teils belustigt über diese Bemerkung die Augen. „Gut, das war nicht nötig, aber ich habe ja auch echt viel Blut verloren", nuschelte sie.

„Du hast dich verändert." Und Tante Selma wirkte alles andere als glücklich darüber.

„In den letzten vier Jahren meinst du? In den entwicklungsentscheidenden Jahren eines Menschen? Schon möglich. Wie geht es ihm?"

„Er müsste eigentlich umgehend in eines der Krankenhäuser der Städter." Anna lachte trocken. Nicht einmal die Städter kamen in die Krankenhäuser der Städter. Eine Behandlung dort war so teuer, dass sie sich nur die wenigsten leisten konnten. „Meine Befürchtung, dass durch die Kugel eine Schussfraktur ausgelöst wurde, hat sich nicht bestätigt", fuhr Selma fort.

„Dann schafft er es?", fragte Anna. Nachzufragen, was genau eine Schussfraktur war, kostete sie zu viel Kraft.

Selma zuckte die Schultern. „Er könnte noch Wochen danach an einer Infektion sterben."

16521 Band 1: Der Pirat, der Bär und der RegenWhere stories live. Discover now