31. August 1996

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Tatsachen= die Schwachstellen der Theorie - Helmar Nahr

31. August 1996

Von meiner eigenen Schulzeit weiß ich ziemlich genau, wie ich das Verbot zur minderjährigen Zauberei umgehen kann. Einerseits wird minderjährige Magie im Beisein von erwachsenen Zauberern nicht an das Ministerium gemeldet, weshalb die Verantwortung bei Reinblutkindern nahezu vollständig bei den Eltern liegt. Zauberstablose Magie ist ebenfalls von der Regelung ausgeschlossen, da es so gut wie nie vorkommt, dass Jugendliche diese praktizieren können und selbstverständlich wird das Verbot während der Schulzeit aufgehoben, was bedeutet, dass ich ab dem ersten September um 11 Uhr ungehindert zaubern darf.

Nun ist der 31 August, 23 Uhr am Abend. Ich sitze in meinem Zimmer und gehe meinen Plan durch. Als einer der wenigen Menschen, denen Gellert je vertraut hat, weiß ich, wo Nurmengard, unsere Festung, gelegentliches Hauptquartier und Gefängnis, liegt. In Österreich. Die Magie, die Nurmengard schützt, ist stark. Mehrere Kilometer in ihrem Umfeld kann man nicht apparieren, doch es gibt ein Haus, in welches wir damals oft per Flohpulver gereist sind. Es ist das Haus eines von Gellerts Anhängern. Ob er noch dort wohnt? Und kann ich ihm mit diesem Aussehen vertrauen? Egal, ich habe keine Wahl.

Also mein Plan: Mit meinem Besen noch heute Abend zum Tropfenden Kessel fliegen, um den dortigen Kamin zu benutzen. Dann mit Flohpulver weiter nach Österreich. Hoffen, dass ich meinem alten Kollegen Hans-Steven noch immer vertrauen kann. Dann mit dem Besen nach Nurmengard fliegen. Warten, bis elf Uhr ist, die Abwehrzauber magisch durchdringen und wirkungslos machen. Und dann... endlich Gellert befreien. Ich male mir die Szene schon in meinem Kopf aus.

Bei Merlins längstem Zehennagel, wo ist mein messerscharfer Verstand hin? Ich plane ja schon wie eine Gryffindor. Mutig, aber Risikoreich und sich auf das Glück verlassend. Aber gibt es eine andere Möglichkeit? Ich muss sobald wie möglich handeln, denn sobald ich in Hogwarts bin, sitze ich fest. Und ich muss mich beeilen, um die Häuserverteilungszeremonie nicht zu verpassen, sonst würde es zu sehr auffallen. Träumen hilft nicht, handeln schon. Ich reiße mich zusammen, steige auf meinen Besen und fliege in Höchstgeschwindigkeit aus dem Fenster los.

Mit steifen Gliedern, durcheinander gewehten Haaren und einem erschöpften Kopf lande ich endlich in London vor dem Tropfenden Kessel. In dem Pub sind zu dieser späten Stunde nur noch einige wenige Gäste zu finden. In einer Ecke sitzt eine Gruppe betrunkener alter Männer, die sich von hinterhältigen Kobolden mit Glücksspielen um ihr Geld erleichtern lassen. Ich fixiere meinen Blick auf den Kamin und bewege mich an der Wand entlang, vorsichtig darauf bedacht, nicht aufzufallen.

„Junge Dame, wohin denn so eilig?", versucht einer der betrunkenen Alten an meine Aufmerksamkeit zu gelangen. Doch leider, leider kann er daraufhin mehrere Stunden nichts mehr sagen, da ich ihm kurzerhand und ohne ein Wort seinen Mund wegzaubere.

Ich werfe ein wenig Flohpulver in den Kamin, klettere in die smaragdgrünen Flammen und sage leise, aber deutlich: „Rüsterstraße 8, Österreich."

Ich sehe verschiedene Kamine an mir vorbeisausen und schaffe es ab und zu einen Blick in ein Wohnzimmer oder Laden zu erhaschen. Große Strecken mit Flohpulver zu reisen, kann man nicht gemütlich nennen. Mir wird schon bald schwindelig. Doch immerhin ist es einer der schnellsten Wege zu reisen.

Schwindelig und mit den Armen rudernd, taumele ich aus dem Kamin.

„Hans?", rufe ich laut.

„Einbrecher!", ruft eine panische Stimme.

„Wohnt hier ein Hans-Steven Meyer?", frage ich laut.

Plötzlich erscheint eine junge Frau im Türrahmen, ihren Zauberstab erhoben. „Es ist ja ein Kind."

Ich nicke schüchtern. „Ja, ich bin ein Kind. Hans ist ein Freund meiner Eltern. Ich bin bei ihm eingeladen."

„Es tut mir sehr leid, aber hier wohnt kein Hans. Bist du dir sicher an der richtigen Adresse zu sein?", sagt sie freundlich, lässt ihren Zauberstab allerdings nicht runter.

Ein kurzer Blick in ihre Augen genügt, um zu beweisen, dass sie die Wahrheit gesprochen hat. Wahrscheinlich ist er umgezogen. Ich kann ja nicht erwarten, dass sich in fünfzig Jahren überhaupt nichts verändert.

„Äh... es kann sein, dass ich falsch bin. Es war mein erstes Mal mit dem Flohpulver", behaupte ich mit gefälschter Nervosität. „Dann gehe ich am besten direkt wieder. Es tut mir leid für die Störung. Wo ist der Hausausgang?"

„Willst du nicht lieber aus dem Kamin zurück nach Hause?", fragt sie.

Ich erahne ihre Hintergedanken. Sie will wissen, wo ich herkomme. Schließlich könnte ich ja eine durch Vielsafttrank getarnte Erwachsene sein.

„Nein, nein. Ich bin sicher, dass Hans in der Nähe wohnt. Am besten rufe ich ihn gleich mal an." Damit halte ich mein Muggel Telefon in die Höhe und begebe mich aus dem Haus.

Das war knapp.

Ich bin kurz davor einen einfachen Vier-Punkte-Zauber zu verwenden, erinnere mich aber im letzten Moment an die Spur. Das Ministerium darf auf keinen Fall erfahren, dass ich in Österreich bin. Also bin ich gezwungen, mich damit zu blamieren, ein Muggel Handy zu benutzen. Sobald ich mich orientiert habe, steige ich auf meinen Besen und fliege Richtung Nurmengard.

Bis jetzt ist alles glatt gelaufen. Beinahe zu glatt. Meine Augen weiten sich vor Freude und Aufregung, als ich den Umriss unserer ehemaligen Festung im Horizont erkennen kann. Ich gucke auf meine Handyuhr. Nur noch ein paar Minuten zu Mitternacht. Ich steige vom Besen und öffne meine Handykamera. Meine langweiligen grau-blonden Haare sind verstrubbelt, unter meinen blauen Augen befinden sich dunkle Augenringe und mein Gesicht sieht wie eh und je aus wie das eines Kindes. Allein das fiese Grinsen erinnert an Victoria Collins. Ob Gellert mich wohl erkennen wird?

Mit dem Gedanken an ihn schaue ich an mir herunter. So kann ich ihm doch nicht unter die Augen treten. Mit der Hand glätte ich meine Haare und binde sie zu einem ordentlichen Pferdeschanz nach hinten. Dann öffne ich den magisch vergrößerten Rucksack, den mir meine Eltern nach langem Betteln meinerseits in der Winkelgasse gekauft haben. Ich suche mir einen schwarzen Umhang heraus und ziehe ihn über. Dann gucke ich erneut in mein Spiegelbild. Vielleicht bilde ich es mir bloß ein, doch ich habe das Gefühl, eine Spur erwachsener und magischer auszuschauen.

Gellerts VictoriaOpowieści tętniące życiem. Odkryj je teraz