29. Juni 1997 (Teil 1)

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It was night, and the rain fell; and falling, it was rain, but, having fallen, it was blood. - Edgar Allan Poe

29. Juni 1997

Das leichte Kratzen der Feder auf einem langen Bogen Pergament ist das einzige Geräusch, welches an diesem warmen Juniabend in der Bibliothek von Hogwarts zu hören ist. Langsam, mit fast schon zärtlichen Schwüngen erzählt die Feder von längst vergangenen Kämpfen, die in die Geschichte eingegangen sind und von mächtiger Magie, die große Zauberer gebrauchten, zum Guten, sowie zum Bösen.

In der modernen Geschichte ist von drei großen Schlachten die Rede. Die dunkle Hexe Yu Xiaoling besiegte 1895 hundert Zhànshì (Bezeichnung für chinesische Auroren) mit nur einem einzigen Fluch, der ihre Gegner dazu brachte, sich wild schreiend gegenseitig zu töten. Aus heutiger Sicht wird gemutmaßt, dass es sich um eine längst vergessene Variante des Cruciatus-Fluches handelt.

Die Feder hält inne, als eine zarte Kinderhand durch einen dicken Wälzer blättert.

Fünfzig Jahre später tauchte dieser Fluch in dem sagenhaften sechsundzwanzigstündigen Duell zwischen Gellert Grindelwald und seinem Erzfeind Albus Dumbledore wieder auf. Grindelwald benutzte ihn als...

Das Zittern der Feder wird immer stärker und bildet einen großen Tintenklecks, der die nächsten kritzeligen Worte verdeckt. Mit einem unangenehm kratzenden Geräusch rutscht die scharfe Spitze aus und erzeugt eine schwarze Spur quer über das Pergament. Von der anfänglichen Eleganz und Ruhe der Feder ist nun nichts mehr zu sehen. Wie verrückt geworden zuckt sie kreuz und quer über das Pergament, welches unter ihren brutalen Stoßen zu beben beginnt.

Unter all dem Chaos tritt eine Form deutlich hervor. Der dunkle Fuß scheint eine schlanke Gestalt zu zerquetschen. Weit aufgerissene, leere Augen starren von dem Blatt empor. Haare und Blut kleben an dem schönen Gesicht der Frau und ihr Mund ist weit aufgerissen in einem lautlosen Schrei, der alle Freude in alle Ewigkeiten verbannen will.

„Hi, Grey! Hier verkriechst du dich also, Mädel!" Die helle Stimme ist so freudig, dass sie nicht in die grausame Szene hineinzupassen scheint.

Ein Ruck geht durch meinen Körper und die malträtierte Feder fällt raschelnd aus meiner Hand.

„Oh, du schreibst den Aufsatz für Verteidigung? Willst du bei dem schönen Wetter nicht lieber mit raus in den See?", trällert die Stimme.

„Nein!", krächze ich heiser. „Verschwinde, Lisa."

Anstatt auf mich zu hören, stützt das Mädchen ihren Ellenbogen an meiner Schulter ab und schnappt sich das Pergamentblatt. „Nun, Grey, ich glaube, den Aufsatz hast du dir eh schon ziemlich versaut. Wer ist es, dem du den Tod wünscht, wenn ich fragen darf?"

Ich schlucke schwer und reiße der Blonden das Blatt aus der Hand. Mein Blick fällt auf die leeren dunklen Augen, die viel zu real wirken. Ein dunkelroter Fluch und schon war alles aus. Jegliche Freude, alles Licht, war wie in ein schwarzes Loch gesogen.

„Wenn ich doch nur wüsste, wer es getan hat! Ich würde ihn so lange quälen, bis er um den Tod bettelt und selbst dann würde ich ihn weiter foltern bis in alle Ewigkeiten hinein!", zische ich Lisa entgegen, die instinktiv einen Schritt zurückweicht.

„Grey..."

Regungslos verfolgt sie die hektischen Bewegungen meiner Hände, als ich das Abbild meines eigenen leblosen Gesichts in kleine Fetzen reiße. Auf einmal macht sie einen schnellen Schritt zur Seite, sodass sie direkt neben mir steht.

„Scht", zischt sie und legt einen Finger auf die Lippen.

„Was..."

„War das gerade eine Buchseite, Mädchen?", schreit Madam Pince aufgebracht. Der unordentlich graue Dutt der Bibliothekarin wackelt bei jedem ihrer Schritte hin und her.

Gellerts VictoriaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt