1. Mai 1998 (Teil 2)

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Das Geheimnis des Glücks ist die Freiheit. Das Geheimnis der Freiheit aber ist der Mut. - Thukydides

1. Mai 1998

„Ist alles in Ordnung, Grey?", befördert mich meine Mutter zurück in die Realität.

„Kannst du hier etwas lesen?", frage ich leise, ohne aufzublicken und deute auf den Brief, den mir Dumbledore hinterlassen hatte.

Sie nimmt mir das Papier aus der Hand. Ihre Augenbrauen ziehen sich zusammen und sie schüttelt leicht den Kopf. „Nein, warum fragst du, Grey?"

Die Sorgen schwirren durch meine Gedanken wie ein Schwarm lästiger Flederwichte. Soll ich hingehen? Für welche Seite soll ich mich entscheiden? Gibt es überhaupt das Gute? Und ist das, was für Dumbledore das Gute ist, auch für mich das Gute?

„Was belastet dich, Grey?", fragt meine Mutter sorgenvoll.

„Hm..." Ich schüttle den Kopf, wie um die Fragen zu verscheuchen.

„Du kannst es mir erzählen und selbst, wenn es etwas Unglaubwürdiges oder... Magisches ist, verspreche ich dir, es ernst zu nehmen."

Ich öffne meinen Mund und schließe ihn wieder. Unschlüssig fummle ich an dem langen, schwarzen Bettlaken. „Glaubst du an Wiedergeburten?"

„An... Wiedergeburten?", wiederholt meine Mutter und zieht verdattert ihre Augenbrauen in die Richtung ihres Haaransatzes.

Ich beiße nervös auf meine Unterlippe. Was habe ich mir bloß gedacht? „Vergiss es, ja?"

„Ich habe dir versprochen, dich ernst zu nehmen", flüstert sie.

„Naja..." Ich seufze geschlagen.

„Mit einer Hexe als Tochter gibt es kaum etwas, an das ich nicht glauben könnte", murmelt sie. „Also schieß los."

Ich atme tief durch, öffne meinen Mund, schlucke und öffne ihn erneut. „Ich bin eigentlich nicht deine Tochter", hauche ich.

Die Zeit bleibt stehen, niemand regt sich und niemand atmet. Ich blicke hilfesuchend durch mein kleines Zimmer, doch es erscheint mir seltsam fremd und einengend. Überall, vom kleinen hölzernen Schreibtisch direkt vor dem hohen Fenster, zum Fußboden bis zu den Schränken, verteilen sich in bunter Mischung alte Kleidungsstücke, Stifte und zerfledderte Bücher. In einer Ecke steht mein alter Schulkoffer und direkt daneben ein Muggel-Schulranzen. Zwischen all diesen Gegenständen verteilen sich Überreste alter Holzbretter, die ich in plötzlichen Wutanfällen zertrümmert habe.

„Grey?", sagt die junge Frau mit bebender Stimme.

„Ich bin nicht deine Tochter", wiederhole ich leise und schaue ihr direkt ins blasse Gesicht.

Ihre Augen verengen sich und vertiefen die kleinen Fältchen zwischen ihren Augenbrauen. „Wie meinst du das, Grey?"

Der Schmerz in ihren Worten lässt mich schlucken. Was tue ich da? Sie ist ein Muggel, verdammt!

„Grey, bitte..." Sie fährt sich mit der Hand übers Gesicht und reibt über ihre geröteten Augen. „Warum sagst du so etwas?"

„Es tut mir leid", murmle ich und starre gegen den umgedrehten Spiegel an der Wand. Warum fühle ich ihren Schmerz so? Sie ist bloß ein Muggel. Ihre Hand schließt sich um meine und ich umklammere sie mit meinen zitternden Fingern.

„Scht", macht sie und drückt mich sanft an ihre Brust. „Beruhig dich, Liebes."

Ich atme in ihr T-Shirt und sofort steigt mir ihr blumiger Geruch in die Nase. Natürlich hat meine Mutter wieder mit ihrem Parfüm übertrieben.

Gellerts VictoriaWhere stories live. Discover now