Prolog

1.1K 94 391
                                    


Die Schatten jagten ihn auf Schritt und Tritt.

   Der bucklige Greis zog sich schleppend den ewig langen Marmorgang herunter. Am Tag wuchsen diese Hallen hoch genug, dass eine Parade mühelos durch sie hindurch ziehen konnte. Dafür waren sie schließlich auch entworfen.

   Doch in der tiefen Nacht engte die Dunkelheit das Gemäuer ein, schrumpfte es so klein wie einen Schacht in tiefster Zwergen Mine. Die kleine Flamme der schrägen Kerze in den Händen des Mannes flackerte schwach und ängstlich hin und her. Wachs tropfte stetig vor seine nackten Füße und sein panischer Atem löschte das kaum sichtbare Licht beinahe aus.

   Endlich erreichte er die erste Stufe der gewaltigen Treppe. Der weiße Stein war ihm so bekannt wie sein eigenes Gesicht, doch dessen Erklimmen war nicht länger Privileg, sondern Hindernis. Keuchend hielt er inne und starrte hinter sich in die ewige Dunkelheit, spürte die Schatten zurück gaffen.

   Da ertönte der schwere, metallene Schritt erneut. Nicht eilig, nicht wild, sondern gezielt, bestimmt, geduldig.

   Klonk, Klonk, Klonk.

   Sein Henker verfolgte ihn immer noch, wusste ihn zu finden.

   Der alte Mann kämpfte sich ängstlich die Treppe empor. Seine Beine brannten nach der Hälfte unter Qualen, doch er fand eine ungeahnte Kraft in sich, so wie viele Menschen in blanker Todesangst. Außer Atem erreichte er das Treppenende und den anliegenden Saal. Der sonst mächtig imposante Raum wurde ebenso durch das Dunkel verschluckt, wirkte wie eine verlorene Ruine.

   Nur die zahllosen Gesichter der kalten Steinstatuen an den Wänden stachen erkennbar aus der Finsternis hervor. Die toten Augen schienen dem alten Mann zu folgen, als dieser sich ermattet durch den Saal entlang zog und schließlich bei dem Thron auf der anderen Seite ankam.

   Mit dünnflüssiger Spucke im Mund ließ er sich auf das samt rote Sitzkissen fallen und versuchte vergebens seinen Atem zu fangen. Der Gestank seines letzten Mahles kroch zwischen seinen Zähnen hervor und beinahe musste er brechen.

   Klonk, Klonk, Klonk.

   Die schweren Schritte erreichten das Ende der Treppe und stolzierten in den Eingang des Thronsaals. 

   Der alte Mann stellte die Kerze vor sich ab und griff mit beiden Händen fest in die Lehnen seines Sitzes. „Wie oft wart Ihr Gast in diesen Hallen? Geladen und behandelt als Freund? Wie viele Seelen Eures heimatlosen Hauses fanden hier eine Zuflucht? Calicedam hieß Euch stets willkommen und so dankt Ihr es der kaiserlichen Hauptstadt?" Teile der Spucke flossen aus seinem Mund, verfingen sich in den kurzen Stoppeln seines grauen Bartes.

  Die Kriegstrommel des herantretenden Stampfers hörte nicht auf, marschierte weiterhin direkt auf ihn zu.

  Klonk, Klonk, Klonk.

   Nun schoss der alte Mann vor, hob urteilend die Hand Richtung Dunkel, als würde er die Nacht selbst brüllend anklagen. „Ich, Kaiser Sevus Brale, Herrscher über das Kaiserreich in Auervam, irdische Stimme des göttlichen Kreis der Gerechten und Freund aller Völker mit Puls, ich befehle dir hier und jetzt Einhalt zu gebieten! Dies ist Wunsch meiner und der Götter selbst!"

   Der Rhythmus der Henkersschritte nahm nicht ab. Stattdessen hätte man sogar eine leichte Vorfreude aus diesem heraushören können.

   Der Kaiser fiel müde auf seine Knie, seine Beine taten es wie seine Leibgarde, sie ließen ihn im Stich. Er faltete die Hände zusammen und schüttelte sich. Da traten die Schritte endlich in den Schein der Kerze.

   Der Mann war groß, breiter und fester Stahl schmückte seinen kräftigen Leib. In einer Hand ruhte ein Schild, in der anderen ein schwingender Morgenstern. Die Zackenkugel tanzte voller Begierde. Seine leeren Augen hafteten ununterbrochen auf dem flehenden, alten Mann.

   Dieser schniefte eine Ladung Rotz in sein edles Schlafgewand. Gelber Schleim zog sich über ein filigranes Muster hinweg. Schließlich zwang sich der Kaiser seinen Jäger anzublicken. „Junge ... bitte. Denk nach. Bitte. Du denkst dich sicher? Unter diesen Kreaturen? Unter Vampiren?!" Der Name der Untoten schien das wenige Licht der Kerze noch mehr zu dämpfen.

   „Junge. Du ... wir sind nicht wie sie, werden es nie. Wir sind vergänglich." Der Kaiser deutete an die Wände des Thronsaals. „Schau dir die Gesichter aller meiner Vorgänger an, aller Herrscher zuvor, aller hohen Menschen mit Ehre und Rang. Sie sind nicht mehr in diesem Sein, sind tot, so wie du und ich es irgendwann sein werden. Erhoffst du dir einen Platz hier? Ein eigenes Reich? Gold? Glaubst du wirklich, sie wird dir dies geben?!"

   Der Mann rührte nicht einen Muskel, sein Atem so ruhig wie das Dunkel selbst.

   Der Kaiser witterte eine Chance und kroch auf seinen Knien etwas nach vorne. „Junge. Sie hat dir den Kopf verdreht, diese Dämonin, dieses Monster. Sie hat dir Lügen und falsche Versprechungen aufgezwungen. Was macht sie, was macht ihr Volk, die Vampire, wenn sie herrschen? Was machen sie mit dir? Denk nach, Junge!"

   Von neuer Hoffnung gepackt zog sich Sevus Brale weiter hoch. „Du bist ein Werkzeug für sie, nichts weiter als das. Wir, die Sterblichen, wir müssen zusammenhalten! Glaubst du, sie respektiert dich? Ehrt dich? Glaubst du, sie schätzt dein vergängliches Leben? Unser vergängliches Leben?" Die Stille zwischen ihnen hing so schwer wie die Nacht selbst.

   Dann raschelte es einmal schwer und eisern auf. Die Zackenkugel des Morgensterns begann sich zu drehen, gierig Fahrt aufzunehmen.

   Panisch keuchte der Kaiser auf. „Was, wenn sie gewinnen? Was dann? Was passiert dann mit dir? Was bleibt? WAS? WIR ALLE TOT UND AM ENDE? WAS BLEIBT AM ..."

   Der Stahl traf den trägen Schädel des alten Mannes mit voller Wucht. Sevus Brale, stolzer Kaiser des Kaiserreichs auf dem Kontinent Auervam, starb, bevor sein Kopf den Boden seines Thronsaals berührte.

   Ein Schwall Blut kleidete die hellen Marmorfliesen in zahlreiche glänzende Tropfen ein und floss langsam Richtung der Füße des Fremden. Langsam schlängelte sich eine rote Linie zu der kleinen Flamme der verlorenen, umgefallenen Kerze.

   Der Mann starrte auf das baldig erstickte Licht, seine Augen so leer wie zuvor. Mit dem ersten Zischen des sterbenden Feuers öffneten sich seine Lippen. „Am Ende ... die bleiche Königin."

Die bleiche Königin - Geburt des TerrorsWhere stories live. Discover now