7. Kapitel

374 42 186
                                    

Das Fehlen der frühen Möwen war das erste Zeichen, was diesen Tag von allen anderen abzeichnete.

   Die kleinen, weißen Vögel gewöhnten sich eigentlich an, bei früher Sonne einmal ins Inland zu fliegen, weg von den Küsten der Insel Skjaldir und hin zu dem kleinen Dorf Flispa. Dort eilten sie zu dem unbenannten Fluss, an dem morgens die Fischer die frischen Fischeingeweide wegwarfen. Dies war schließlich ein gefundenes Mahl für die gierigen Mäuler. Doch heute tauchten keine Möwen auf, nicht einer der bekannten Vögel segelte zu ihnen aus dem Süden herüber.

   Saspi lehnte sich aus ihrer Hocke etwas weiter nach vorne und tauchte ihre schmutzigen Hände tief in die kalte Flut des Flusses. Sofort fing sie an zu zittern, doch ihre Finger waren wieder sauber. Sie schloss die Augen und atmete einmal tief. Das Rauschen der Strömung begleitete sie all ihr Leben lang, doch in diesem Moment erklang es fremd, beinah störend. Als wolle der Fluss sie wegspülen, wäre er in der Lage dazu.

   Die hagere, doch drahtige Frau pustete sich eine graue Strähne aus dem Gesicht und erhob sich langsam. Die Knochen älterer Menschen hätten geächzt, doch Saspi war frisch für ihr hohes Alter. Sie hielt ihren hellbraunen Blick weiter Richtung Süden. Etwas in ihrem Bauch summte ihr zu, sie müsse heute noch eine Möwe sehen, sonst wäre dies ein schlechtes Omen.

   „Omaaaaa. Ich hab keine Lust mehr nach Krebsen zu graben!" Die schrille Stimme zischte hinter Saspi und die alte Frau stöhnte gespielt genervt aus.

   „Glaubst du, ich hab Lust?" Saspi drehte sich zu ihrem Enkel, einem kleinen, frechen Knaben namens Palka, um.

   Das Kind kicherte unter seinen langen, lockigen Haaren und schüttelte sein rundes, weiches Gesicht. „Warum machen wir das dann?"

   „Weil dein Papa es so will. Und der hat hier das Sagen! Und willst du, dass er dich, viel schlimmer, mich vor dem ganzen Dorf anbrüllt?" Die alte Frau verdrehte sich in eine komisch geknickte Pose und der kleine Junge lächelte erneut und schüttelte wild und ungezügelt den Kopf.

   „Eben. Also. Den Korb brauchen wir noch voll, dann können wir in die Mittagsruh ziehen, ja?"

   „Aber die zwicken mich immer." Palka zeigte demonstrativ auf einen kleinen Schnitt an seinem Daumen. Ein einzelner Tropfen Blut verlor sich in dem festgeklebten Schlamm auf seiner Haut.

   Saspi lachte auf. „Klar tun sie das. Du willst sie ja auch essen. Ich würde dich auch zwicken, wenn du mich beißt. Komm. Ein bisschen Blut zwingt den mächtigen Palka doch nicht etwa in die Knie?!"

   Ihr Enkel lachte auf und fletschte mit seinen Zähnen. „Neeeeeein! Vielleicht beißen wir Papa, dann lässt er uns in Ruhe."

   Die alte Frau schüttelte geschlagen mit dem Kopf, doch sie musste schmunzeln. „Ich beiße dir gleich in die Backen du, der Korb noch, komm." Sie bückte sich vor und grub mit ihren Händen im Flussbett weiter. Ihre Haut hatte sich nie komplett an die Kälte gewöhnt, doch Saspi fand mit ihren Händen tief im Schlamm versteckt jeden Krebs ohne Mühen. Man spürte jedes Zucken und Winden in dem dichten Grund, wie einen Liebhaber unter einer dicken Bettdecke.

   Ihr Enkel warf sich nun mit neu gefundenem Willen an die Arbeit. „Raus mit euch, raus mit euch, sonst beiße ich!" Er rammte seine beiden, winzigen Hände tief in den Schlamm und wühlte wild umher, Saspi musste sich abwenden, nicht zu stark zu lachen. „Raus mit euch, sonst hol ich Milana und die beißt euch."

   Die ältere Frau wusste nicht, warum sie innehielt, doch kalter Schweiß floss ihr über die Stirn. Dieser Name hatte mittlerweile allein durch das Hören und Sagen der Kaiserlichen eine tiefschneidende Bedeutung für sie.

Die bleiche Königin - Geburt des TerrorsWhere stories live. Discover now