Kapitel 1: Nichts hat sich verändert

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Das ist meine Geschichte. Chloe Silvers Geschichte. Meinen richtigen Namen, Salvatore, trage ich schon lange nicht mehr. Nicht mehr seit genau 128 Jahren. Diese Geschichte, dieser Teil meines Lebens, beginnt auf einer kleinen Straße in New Orleans.

Ich sehe den blonden jungen Mann genau fünf Sekunden, bevor er mich gesehen hätte. Abrupt bleibe ich hinter dem Laternenpfahl stehen und warte, bis er vorbei geeilt ist. Er ist auf der anderen Seite der Straße, ich zweifle jedoch nicht daran, dass er mich trotzdem gesehen hätte.
"Chloey, komm! Wir müssen weiter!"
Widerwillig lasse ich mich von meiner Freundin weiterziehen. Livia will so schnell wie möglich aus dem strömenden Regen raus. Ich auch, wären meine Augen nicht immer noch an der schon längst verschwundenen Gestalt festgeheftet. Er war schnellen Schrittes den Gehsteig entlanggelaufen und hat sich an trödelnden Passanten vorbeigedrängt. Ich hatte sein Gesicht auf die Entfernung nicht erkennen können, aber wenn ich einen Menschen auch nur an der Art seines verärgerten Ganges erkennen könnte, dann Nik. Ich blicke in die Richtung, in die er davongeeilt ist. Kaum zu glauben, nicht einmal zwei Tage in New Orleans und schon treffe ich wieder auf meine Vergangenheit. Eine Vergangenheit, die ich so schnell wie möglich hatte vergessen wollen.
Aber ich habe heute vor genau zwei Wochen und sechs Tagen eingesehen, dass ich mich mit diesem Teil meines Selbst noch einmal beschäftigen muss, nur ein einziges Mal. Und dann nie wieder.
Ich lasse mich von Livia weiterziehen, halte jedoch ein paar Meter weiter unter einer Markise eines geschlossenen Cafés an.
"Livia....", sage ich. Ich habe schon im Flieger überlegt, wie ich es ihr am Besten sagen sollte, ohne dass sie mitkommen will. Ich darf ihr nichts sagen, schließlich wollen sie und ich unser normales Menschenleben nach dieser Woche wie gewohnt weiterleben, in dem kleinen Dorf in Irland, von dem ich gelernt habe, es mein Zuhause zu nennen. "Ich muss schnell noch etwas erledigen." Es ist der perfekte Zeitpunkt. Wenn Nik außer Haus ist und das ist er, schließlich entfernt er sich genau in die entgegengesetzte Richtung, würde es leichter werden.
Livia sieht mich fragend an.
Ich seufze. "Geh du schon mal ins Hotel, ich muss noch ein paar alten Bekannten einen Besuch abstatten. Alleine."
Ich glaube, sie ist meine Art, ihr Dinge zu erklären, gewohnt, und deshalb frägt sie nicht nach. Sie nickt nur. "Bis dann", sagt sie.
Ich sehe ihr nach, wie sie um die Ecke biegt. Sie darf mir auf keinen Fall folgen.
Die Gassen in New Orleans schauen anders aus als zu meinen Zeiten. Sie sind schmutziger, gefährlicher. Ich meide die Ecken, wo Betrunkene auf dem Boden sitzen und Löcher in die Luft starren. Ein paar von ihnen beäugen mich lustvoll. Nicht gefährlicher. Anders gefährlich. Gefährlich mehr in die natürliche Richtung.
Ich staune, als ich nach einer Viertelstunde vor dem Haus der Mikaelsons stehe. Obwohl ich mich auf diesen Augenblick vorbereitet habe, trifft mich der Anblick dieses Ortes, mit dem sich so viele Erinnerungen verbinden, wie ein Schlag in die Magengrube. Es hat sich im Vergleich zum Rest der Stadt kaum verändern. An ein paar Ecken ist es renoviert worden, damit es nicht zusammenfällt. Ich suche mit den Augen den Innenhof ab. Keine Seele lässt sich hier in dem strömenden Regen blicken.
Offiziell bin ich mit Livia in diese Stadt gekommen, weil wir an einem Malseminar teilnehmen. Wir sind beide leidenschaftliche Malerinnen, und da habe ich die Chance genutzt, als ich in einem Artikel über diese Seminarwoche gelesen habe.
Inoffiziell bin ich hier, weil ich etwas holen muss. Etwas aus dem Haus der Mikaelsons. Ich weiß nicht, wie es aussieht. Ich weiß nur, dass es existiert und ich die einzige bin die weiß, wo es sich befindet. Ich muss es finden, sonst ist mein Bruder in zehn Tagen tot. Mein böser Bruder, wohl angemerkt. Mein mir liebster Bruder.

Ich ruckle am unteren Rand des Fensters herum. Es klemmt, aber es lässt sich unter leisem Knarzen nach oben schieben. Früher habe ich dieses Fenster regelmäßig benutzt, wenn ich mich heimlich ins Haus geschlichen habe um Nik zu überraschen. Aber da war ich noch bedeutend leiser gewesen.
Mit einem Klatschen meiner nassen Schuhe komme ich auf dem Boden auf. Sobald ich das Fenster wieder heruntergeschoben habe, ist es ruhig im Haus. Eine willkommene Abwechslung vom permanenten Prasseln des Regens. Ich sehe mich im Raum um. Er wird anscheinend nicht mehr benutzt, denn das Klavier, der einzige Gegenstand hier, ist mit einer dicken Staubschicht bedeckt. Meine Finger jucken, aber ich verkneife mir den Drang darauf zu klimpern. Es ist wirklich nicht ratsam, bei einem Einbruch ein Musikinstrument zu spielen. Die vielen Stunden, die ich hier mit Nik und seiner Familie verbracht habe, lachend, singend, ziehen vor meinem inneren Auge vorüber. Merkwürdig, seit geraumer Zeit habe ich nicht mehr an mein altes Leben gedacht, und außgerechnet jetzt, wo ich mich auf andere Sachen konzentrieren muss, kommen all diese Erinnerungen wieder.
Ich schleiche zur Tür und lausche. Nichts ist zu hören, was aber nicht heißen muss, dass auch niemand da ist. Schlaue Vampire machen sich erst bemerkbar, wenn sie bemerkt werden wollen, besonders die Urvampire. Ich beschließe, dass niemand da ist, sonst komme ich hier nicht weiter. Ich drücke die Klinke hinunter und husche durch den Schatten des dunklen Ganges. Hier brennen keine Lichter. Vielleicht hat es einen Stromausfall gegeben, ich weiß nicht, ob in diesem Haus elektrische Lampen installiert worden sind. Früher hat es nur Kerzen und Öllampen gegeben.
Ich durchquere die große Halle und sehe über mir einen Deckenleuchter hängen. Bingo, elektrisches Licht. Stromausfall bei diesem Wetter - wahrscheinlich. Ein paar Kerzen zeigen mir den Weg nach oben. Zum Glück stolpere ich nicht über Treppenstufen, wie Livia es ohne Zweifel getan hätte. Sie ist zwar ein Mensch wie ich, hat aber nicht die Erfahrungen eines Vampirlebens. Vor einer mir wohl bekannten Tür halte ich inne. Ich kann mich nur verschwommen an den Ort erinnern, aber die Farben im Hintergrund sind mir im Gedächtnis geblieben. Ich schlüpfe schnell durch die Tür.
Niks Zimmer hat sich überhaupt nicht verändert. Immer noch steht eine große Staffelei neben einem hohen Fenster, umringt von breiten Tischen mit Krügen voller Pinseln und Farbtöpfen. Den Rest des Raumes füllen Bilder, Unmengen von Bilder, die er gemalt hat. Ich trete zu der Staffelei und fahre die vertrauten Pinselstriche nach. Ich spüre einen Stich in meinem Herzen. Die Schwingung des Pinsels, die Form ... nichts hat sich verändert. Es ist immer noch derselbe Nik, nur 128 Jahre älter.
Blitzschnell zucke ich zurück und schüttle den Kopf. Ich muss etwas finden. Ich bin nicht hier, um in Erinnerungen zu schwelgen. Ich gehe die Reihen der Bilder durch, bis ich vor einem stehe, das seit 1887 dort an der Wand hängt und nicht so ausschaut, als wäre es in all den Jahren auch nur ein einziges Mal beachtet worden. Ich wische über die Oberfläche und wirble sogleich eine dichte Staubwolke auf, sodass ich husten muss. Das Bild zeigt eine Blumenwiese bei Nacht, die Sterne scheinen übernatürlich hell und tauchen die Szenerie in ein sanftes Licht. Zwei Menschen sitzen inmitten der Gräser, ein Liebespaar. Der junge Mann hält das Mädchen in seinen Armen, und sie blickt verliebt hoch in sein Gesicht. Obwohl es nur schwarze Schatten sind, weiß ich genau, was sie bedeuten. Ich habe sie gemalt.
Ich nehme das Gemälde an den Kanten hinunter und lehne es vorsichtig gegen die Wand. Ja, das ist die Stelle. Unverkennbar. Meine Fingerspitzen streifen sacht über die Muster in der Wand, über die verschlungenen Spiralen und Linien. Es tut sich nichts. Ich runzle die Stirn und mache es noch einmal, konzentrierter. Wieder nichts. Hätte ich doch nur mehr Licht außer die schwachen Sonnenstrahlen, die durch die Wolken noch mehr gedämpft werden. Vielleicht habe ich nicht das richtige Muster getroffen.








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