Kapitel 35: Abschied

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Die Fahrt von New York bis New Orleans kommt mir wie eine Stunde vor, nicht wie ein Tag. Zu viele Fragen schwirren durch meinen Kopf, auf die ich keine Antworten weiß. Nik hat eine Tochter? Deren Mutter tot ist? Obwohl ich ihn ganz genau kenne, kann ich mir schwer vorstellen, dass Nik sie umgebracht hat. Er bringt niemanden um, den er liebt. So sehr er diese Liebe auch verleugnet, mich hat er schließlich auch nicht umgebracht. Also warum ist diese Mutter seines wertvollen Kindes tot?
 "Du setzt den Gedanken voraus, dass Klaus sie geliebt hat", meinte Damon, als ich es ihm in einem ruhigen Moment erzählt habe. "Die viel wichtigere Frage ist doch: Warum hat er dir sein Geheimnis anvertraut?"
 Darauf konnte ich nur mit Schulterzucken antworten. Es ist mir rätselhaft, warum Nik seiner Exfreundin erzählen sollte, dass er von einer neuen Freundin ein Kind hat. Das macht einfach keinen Sinn, noch weniger wenn man bedenkt, dass er ihre Sicherheit so wertschätzt, dass er sie von der Außenwelt abschottet.
 Mit diesen ungelösten Fragen in meinen Gedanken betrete ich das Mikaelson-Anwesen. "Bist du aufgeregt?", flüstert Damon in mein Ohr.
 Verwirrt schaue ich ihn an. "Weshalb sollte ich?"
 "Hast du es etwa vergessen? Du hast mir doch gesagt, dass deine Freundin wieder aufgetaucht ist. Zoey."
 Sofort spüre ich, wie sich ein Funke Adrenalin entzündet. Stärker, als bei meinem Wiedersehen mit Rebekah. Das hier ist etwas anderes. Ich werde meine beste Freundin treffen, nach 128 Jahren. Ich reibe meine verschwitzten Hände an der Hose ab und werfe meinem Bruder einen finsteren Blick zu. "Vielen Dank, jetzt bin ich es erst recht."
 Damon grinst unschuldig und sagt: "Kein Problem." Damit fällt er wieder zurück und flüstert Stefan etwas ins Ohr.
 Unser kleiner Bruder ist mehr er selbst geworden, seit Damon wieder da ist, was mich etwas verwundert, schließlich ist er derjenige, der Stefan regelmäßig auf die Palme bringt. Wahrscheinlich liegt es daran. Damon erinnert ihn daran, wer er ist. Wir sind eine Familie, die in schweren Zeiten für einander sorgt.
 "Ihr seid wieder da!" Rebekah stürmt die Stufen der Galerie herunter und fällt erst Nik, dann mir um den Hals.
 "Ja, Schwesterchen, wir sind wieder da." Nik grinst und wirbelt meine Eisenkrautkette durch die Luft. "Wo sind unsere geliebten Brüder?"
 "Hier, Niklaus." Elijah drängt sich an Stefan vorbei durch die Haustür und durchquert den Raum. Im Gehen wirft er mir einen prüfenden Blick zu, der wahrscheinlich sagen soll: Habt ihr es geschafft?
 Ich presse die Lippen zusammen. Die schlechte Nachricht soll ruhig Klaus überbringen.
 Ein Japsen an der Pforte. Ich drehe mich um und werde sogleich von zwei Armen umschlungen. Schwarze Haare kitzeln meine Nase und ich kneife kurz die Augen zusammen, bevor ich die Umarmung erwidere. "Chloey", wispert die melodische Stimme in mein Ohr, die die schönsten Bilder in die Köpfe von Menschen malen kann.
 "Zoey." Ich lächle und halte sie ein Stück von mir weg, damit ich ihr Gesicht betrachten kann. Sie hat sich kein Stück verändert. Ihre hellen, grauen Augen betrachten mich liebevoll. Ihre Mundwinkel sind zu einem Lächeln verzogen, das Herzen zum Schmelzen bringt.
 "Du bist gealtert." Ihre kühle Hand liegt an meiner Wange und tastet meine Haut ab, wie bei einer Arztuntersuchung.
 Ich lache, doch das Geräusch klingt zittrig. Ich habe sie wirklich vor mir. Nach mehr als einem Jahrhundert habe ich sie wieder. Um nicht sentimental zu werden, versuche ich, ihre Hand abzuschütteln und sage mit einem Grinsen: "Lass das!"
 "Doch, es ist wahr." Sie blickt mich überrascht an. "Dieser Schimmer in deinen Augen ist verschwunden."
 Ich ziehe eine Augenbraue hoch. "In meinen Augen war ein Schimmer?"
 Zoey öffnet den Mund, doch Klaus fährt dazwischen. "Ich verstehe ja, dass die Wiedersehensfreude groß ist. Aber wir müssen uns an den Plan halten."
 "Was für ein Plan?", fragen Rebekah und Zoey wie aus einem Munde.
 "Die Hexen haben den Ring", erklärt er nüchtern. "Wir haben ungefähr 48 Stunden Zeit, bevor unsere Mutter von den Toten aufersteht. Das will ich verständerlicherweise verhindern."
 Seine Geschwister - und Zoey - erholen sich schneller von diesem Schock, als ich vermutet hätte. Sie fragen auch nicht genauer nach, wie ich es tun würde, wäre ich unwissend. "Was hast du vor?" Elijah verschränkt die Hände hinter dem Rücken.
 "Ich beauftrage die Hexen, einen Zauber zu sprechen, um das Naturereignis übermorgen zu verhindern. Das verschafft uns Zeit."
 Rebekah schüttelt den Kopf. "Es gibt da ein kleines Problem." Sie wirft einen Blick auf Elijah, der sie kühl mustert. Sie beißt sich auf die Lippe. Irgendetwas haben die zwei doch verbrochen.
 Nik muss es auch ahnen und setzt einen grimmigen Gesichtsausdruck auf. "Ich höre."
 "Es ist meine Schuld." Zoey tritt vor. Vor meiner Verbannung haben sie und Klaus eine neutrale Freundschaft geführt. Sie haben eingesehen, dass sie füreinander keine Bedrohung darstellen und lebten friedlich nebeneinader. Im Moment schenkt Klaus ihr einen Blick, als wäre sie sein Todfeind höchstpersönlich, der gerade aus der Hölle wiedergekehrt ist.
 "Jetzt bin ich gespannt. Der verschollene Vampir, der überraschenderweise genau dann auftaucht, wenn ich es am wenigsten gebrauchen könnte, trägt Schuld mit sich herum. Ich bin ganz Ohr, Liebes."
 Damon stellt sich unbemerkt hinter mich und legt eine Hand in mein Kreuz, als würde er sich darauf vorbereiten, schleunigst von hier zu verschwinden, falls es Ärger gäbe.
 Rebekah weicht ein Stück zur Seite, lässt Zoey jedoch nicht aus den Augen. Elijah hat noch immer diesen unterkühlten Blick aufgesetzt. Wenn er nicht aufpasst, sorgt er noch dafür, dass wir alle eingeschneit werden.  
 "Nach ..." Ich merke, wie Zoey sich anspannt. Mit den Händen hinter dem Rücken, nestelt sie am Saum ihres Shirts. Es sieht so aus, als wären diese neumodischen Sachen für sie noch ... neu.
 "Nachdem Chloe ..."
 Klaus seufzt. "Nachdem ich Chloe aus New Orleans verjagt habe?"  Mit einer ungeduldigen Handbewegung fordert er sie zum Weitersprechen auf.
 "Ja. Ich habe nach ihr gesucht, weil ich ahnte, dass sie etwas Dummes machen wird. Weit bin ich allerdings nicht gekommen. Kaum war ich aus der Stadt draußen, haben mich irgendwelche Hexen eingefangen und wieder zurückgebracht. In irgendeiner Friedhofskapelle haben sie mich auf einen Tisch gefesselt und in tiefen Schlaf versetzt. Das nächste, an das ich mich erinnern kann, ist Rebekahs Gesicht. Sie und Elijah haben mich befreit."
 Nik sieht seine Schwester mit einer erhobenen Augenbraue an. "Das musst du mir näher erklären."
 Rebekah wirft Elijah einen weiteren Blick zu, der sie jedoch nach wie vor abblitzen lässt.
 "Kol hat schwarze Magie gewittert. Bei den Hexen ist irgendetwas schief gelaufen, weshalb der Schutzring um Zoey inaktiv war. Wir sind der Spur gefolgt und haben Zoey befreit. Die Hexen haben sie kannalisiert!"
 "Und warum stellt das ein Problem da?" Nun wendet er sich an Elijah.
 Der presst die Lippen aufeinander. "Bruder, du musst verstehen, dass das ganz allein Rebekahs Idee war. Ich heiße ihr Handeln nicht gut. Kol sitzt nun in Ketten und der Hexenzirkel hat sich gegen uns Mikaelsons verschworen."
 "Wie konnte das passieren?"
 "Es gab Tote."
 Nur ein Magier wäre jetzt in der Lage, Klaus' Miene zu deuten. Er erinnert mich etwas an diese alten Teekocher, die sich langsam aufheizen, bevor sie pfeifen. Nur dass Niklaus kein Teekocher ist, sondern Niklaus, ein schnell reizbarer, psychopathischer und narzisstischer Hybrid.
 Er lächelt. "Drei Tage. Ich war nicht einmal drei Tage weg, und schon zerstören meine Geschwister alles, was ich in einem Jahrhundert aufgebaut habe. Sehr nette Geschwister, die ich da habe." Er geht auf Rebekah zu, die die Schultern strafft und ihm starr entgegenblickt. Er baut sich vor ihr auf. Durchbohrt sie mit Blicken. Dann lässt er die Hand herabsausen, sodass ihr Kopf zur nach hinten geworfen wird.
 Sie widersetzt sich dem Drang, zurückzuweichen und ihre Wange zu umfassen. Ein kurzes Zucken, mehr lässt sie nicht zu. Ich höre, wie Damon die Zähne aneinander reibt. Sein Druck gegen meinen Rücken verstärkt sich.
 "Und nun zu dir, Miss Woodness." Klaus setzt seinen Feldzug fort, und hat meine Freundin im Visir. Zoey, ein unverletzlicher Vampir. Zoey, meine beste Freundin.
 Meine Füße setzen sich in Bewegung, und bevor ich wieder klar denken kann, habe ich mich schützend vor Zoey gestellt.
 Klaus hält inne. Der ganze Raum scheint die Luft anzuhalten. Ich habe mich ihm in den Weg gestellt.
 "Meine liebe Chloey", sagt er leise, und abermals erinnert er mich an ein gefährliches Raubtier. "Wenn du weißt, was gut für dich ist, würde ich dir raten, mir aus dem Weg zu gehen."
 Ich verschränke die Arme. "Nein. Ich lasse nicht zu, dass du deine Wut an Zoey auslässt." Mein Blick schießt durch den Raum. "Oder an deinen Geschwistern. Nik, Kol ist in Gefahr. Du musst ihn befreien."
 Das Risiko, ihn in dieser Situation mit Nik anzusprechen, war groß. Schließlich bin ich ein Mensch, und er ein Hybrid. Der Urhybrid. Nun kommt alles auf den einen Funken an. Der Funke, der ihn menschlich macht.
 Er sieht mich einen Moment, eine Ewigkeit an. Er wirft einen Blick hinter mich, dann zu seiner Seite. Letztlich entspannt er sich und legt vorsichtig, als wäre ich ein zerbrechliches Gefäß, die Hand an meine Wange. Er flüstert: "Ich habe dir noch nicht vergeben. Nichtsdestotrotz solltest du dich glücklich schätzen, die zu sein, die du bist." Ich bilde mir ein, auf dem Wort noch eine besondere Betonung zu hören, aber was wissen denn schon meine kläglichen Menschenohren? "Also was schlägst du vor?"
 Meine Gedanken überstürzen sich. Mir fallen all die genialen Strategiepläne ein, die Nik während unserer gemeinsamen Zeit vor einem Jahrhundert ausgeheckt hat. Mir fällt die Krankheit ein, die die Hexen unter den Vampiren verbreitet haben. Alles falsch. Alles Tod. Die Ausgangslage wird immer Tod sein, sobald man Feuer mit Feuer bekämpft.
 Also sage ich: "Eine Party." 

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