Kapitel 19: 16. Mai 1886

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Goldene Sonnenstrahlen fallen durch das geöffnete Fenster und kitzeln meine Haut. Unter halb geöffneten Lidern erkenne ich ein Zimmer, das vollkommen in das helle Licht getaucht ist. Meine Augen erfassen eine Kommode an der gegenüberliegenden Wand, darüber ein Bild mit roten und blauen Strichen. Meine Zehen graben sich in etwas weiches ein; ein Bettüberzug. Ich liege also in einem Bett. Ich schließe noch einmal die Augen und lasse meine Gehirn die Situation durchleuchten: Erstens, das Zimmer liegt im Osten, sonst könnte die Morgensonne nicht hineinscheinen. Zweitens, gestern war ich auf dem Frühlingsball bei den Mikaelsons. Drittens, ich habe getrunken; und ich habe mich einschmeicheln müssen. Klaus Mikaelson hat mich geküsst.
In meinem Inneren bricht ein Wirbelsturm los, doch mein Körper bleibt ruhig. Gut, soweit wären wir schon mal. Wir haben uns geküsst. Als Bezahlung für die Information. Er wollte mich auch zu dem Vampir hinführen, der Stefan hat, ebenfalls mit Bezahlung. Und dann sind wir in sein Zimmer gegangen und ...
Ich achte darauf, was ich unter meinen Fingern fühle. Haut. Mein Ohr hört ein schlagendes Herz. Dum dum. Dum dum. Dum dum.
Mit einem Schlag öffne ich die Augen und drehe den Kopf ein Stück zur Seite. Die Morgensonne bringt seine Wimpern zum leuchten, seine Lippen sind etwas geöffnet. Er schläft noch. Mein Kopf ruht immer noch auf seiner Brust, die sich gleichmäßig hebt und senkt.
Mein Atem geht im Gegensatz zu seinem plötzlich schnell, ich hebe die Decke einen Spalt weit an, mit möglichst wenig Bewegung des restlichen Körpers. Wir sind beide nackt.
Rasch lasse ich die Decke wieder fallen und bin mit einem Wimpernschlag an der Tür, eine über dem Stuhl gehangene Decke um mich geschlungen und das Kleid samt Korsett unter den Arm geklemmt. Klaus schläft immer noch. Die Tür fällt ins Schloss, als ich schon an der Treppe bin und meine Umgebung nach den fehlenden Schuhen scanne. Wo habe ich sie bloß ausgezogen? Im Zimmer waren sie nicht, oder habe ich sie vielleicht übersehen? Sind sie gar noch im Garten?
Zögernd stehe ich auf der ersten Stufe, eine Hand ans Geländer gelegt, und spiele den Lauf des gestrigen Abends ab. Vielleicht hat Damon ... Nein, warum sollte er... Oh nein, was hat er sich gestern nur gedacht, als ich nicht mehr aufgetaucht bin? Hoffentlich nur, dass ich schon früher gegangen bin und ich ihn nicht hatte finden können ... Ich will mir gar nicht vorstellen wie er reagieren würde, wenn er von der gemeinsamen Nacht mit Klaus erfährt. Amüsiert, piesackend? Oder doch eher aufgebracht, zornig? Bei ihm kann man das nie so genau wissen.
"Hast du die hier vielleicht verloren?" Ich fahre herum. Der Mann, nein, der Junge, dem die Stimme gehört, steht im Gang hinter mir an die Wand gelehnt. Von seinen Fingern baumelt ein Paar silbener Schuhe. Meine Schuhe.
Ich gehe auf ihn zu und reiße ihm die Schuhe energisch aus der Hand. "Ja, danke", sage ich mit einem gezwungenen Lächeln. Toll, jetzt kann er sich seinen Teil denken. Und das tut er auch.
Sein Blick wandert von meinem Gesicht über meinen Körper, der nur in eine viel zu kurze Decke gehüllt ist, zu meinen bloßen Füßen und wieder zurück. Er grinst mich breit an. "Hast du bei uns übernachtet? Du schaust so aus."
Ich fixiere mit zusammengezogenen Brauen seine Augen; sie sind von einem dunklen Braun, und in ihnen spielen die gleichen, schelmischen Funken ihr Spiel wie ich sie bei Klaus gesehen habe. Also ein Bruder. Der Jüngste, denn er ist nur ein paar Jahre älter als ich, Anfang Zwanzig.
Als ich nichts erwidere, lacht er laut auf und löst somit die Spannung, die zwischen uns enstanden ist. "Zu mir gehörst du nicht, ich wüsste es, wenn ich ein so hübsches Mädchen im Bett gehabt hätte. Elijah ist dafür zu nobel, und Finn zu langweilig." Sein Lächeln vertieft sich. "Niklaus?"
Ich drehe mich auf dem Absatz um und mache mich daran, die Treppen hinunterzugehen. Stufe für Stufe, ermahne ich mich. Gerne hätte ich den traditionellen Vampirweg genutzt, aber das will ich dem Jungen nicht bieten.
So kann ich es aber nicht verhindern, dass er mir nachläuft. "Bist du nicht etwas zu jung für Niklaus? Wie alt bist du, siebzehn?"
Ich muss an mich halten, um nicht herumzufahren und stattdessen stur auf die Stufen zu starren, Schritt für Schritt. "Ich bin neunzehn", erkläre ich mit ruhiger Stimme.
"Und Nik ist achtundzwanzig."
Ich presse die Lippen aufeinander. Ich weiß selbst, dass es dumm war. Eine Nacht mit einem Urvampir, nur um an Stefan heranzukommen. Warum hatte ich mich gestern Abend nicht beherrschen können? Es hätte bestimmt noch einen anderen Weg gegeben...
"Wie heißt du?", fragt der Junge weiter und nervt mich mit jedem Schritt mehr. Wäre ich doch nur bei Klaus geblieben.
Aber nein, halt, das wäre schlecht gewesen. Ich weiß nicht, wie er reagiert hätte, wenn er sich der Situation, genau wie ich heute morgen, noch in meinem Beisein bewusst geworden wäre, und erst recht, wie ich auf seine Reaktion reagiert hätte.
Als wir den unteren Stock erreicht haben, die große Halle, in der am Abend zuvor das Fest stattgefunden hatte, ergreift er meine Hand und drückt sie, immer noch mit einem Grinsen. Es scheint an ihm zu kleben wie eine lästige Klette.
"Ich bin Kol Mikaelson", sagt er.
Ein Seufzer entfährt mir. "Chloe Salvatore."
Während er wieder redet, befreie ich meine Hand aus seinem Griff. "Ah, mit deinem Bruder hatte ich gestern eine kleine Auseinandersetzung." Mit seinen Fingern der nun freien Hand deutet er eine Lücke an. "Er ist nicht verletzt, keine Sorge. Nur ein paar blaue Flecken."
"Die gleich wieder geheilt sind, ich weiß." Ich kann nicht mehr länger stumm bleiben. Auch, wenn er mir im Moment lästig ist, unter anderen Umständen hätte ich ihn bestimmt sympathisch gefunden und mit ihm ein Gespräch angefangen. Ich lächle. "Um meinen Bruder habe ich mir ehrlich gesagt auch keine Sorgen gemacht."
Kol hebt gespielt erstaunt eine Augenbraue. "Oh, sie lächelt!" Er bietet mir einen Arm an. "Darf ich dich zu einem geeigneten Ort führen, an dem du deine ... Kleider wechseln kannst?"
Ich schmunzle und hake mich bei ihm ein. Während wir den Saal durchqueren und in einen kleinen Gang kommen, sage ich: "Existiert bei allen Mikaelsons keine Vorschriften was die Anrede einer jungen Frau angeht?"
"Ich bin mir sicher, mein Bruder Elijah könnte dir da sicher aushelfen." Er grinst wieder. "Außerdem finde ich es unpassend, ein Mädchen zu siezen, das leicht mit einer Decke bekleidet vormittags durch unser Haus schleicht."
Er schiebt mich durch eine Tür in ein Schlafzimmer und bleibt vor der Tür stehen. "Unser Zimmer für Gäste. Ich warte auf dich, damit du dich nicht nochmal verirrst."
Er schließt die Tür und ich beeile mich, mein Korsett zu binden. Ohne eine Person, die mir hilft, ist das Gesamtwerk letztenendes sehr unordentlich und alles andere als hauteng, aber darum schere ich mich im Moment wenig. Das Kleid ist schnell übergezogen; bevor ich wieder auf den Gang hinaustrete, fahre ich mir mit den Fingern schnell durch die Haare, um die schwarzen Wellen ein bisschen zu ordnen.
Wieder mustert Kol mich von oben bis unten, ehe er nach meinem Arm greift und mich den Weg in den Saal zurückführt. Er reißt noch ein paar Witze darüber, wie lustig er es findet, dass ich mit seinem Bruder im Bett war, und ob ich nicht auch mal Lust hätte, zu ihm zu kommen. Ich verkneife mir die Erklärung mit Stefan. Es ist mir egal, was der Mikaelson-Bruder denkt. Nach diesem Tag werde ich ihn wahrscheinlich nie wieder sehen.
"Vielleicht bist du auch bald meine Schwägerin und ich darf dich 'Schwester' nennen. Das wäre nicht -"
Ich sehe den Mann, ehe mein Begleiter ihn sieht. Er lehnt an der Tür, die in den Garten hinausführt und ist sehr elegant gekleidet. Ich vermute einen weiteren Mikaelson, denn er sieht wie eine ältere Version von Kol aus. "Bruder, was begleitest du da für ein Mädchen?"
Kol erstarrt für eine Sekunde, zu sehr in sein Reden vertieft gewesen, ehe er seine Schultern strafft und erklärt: "Das ist Chloe Salvatore, ein Gast, der über Nacht geblieben ist. Chloe, das ist Elijah, der Bruder von dem ich sprach."
Ich erlaube mir einen kleinen Knicks, und als er mich betrachtet bin ich froh, dass ich nicht mehr die Decke trage. Dieser Urvampir macht einen erwachseneren Eindruck als die zwei, von denen ich schon die Ehre hatte sie zu treffen, und ist auch wesentlich älter.
Er kommt auf mich zu und küsst flüchtig meinen Handrücken. "Es freut mich sehr, Ihre Bekanntschaft zu machen, Miss Salvatore."
"Das gleiche gilt für mich, Mr Mikaelson."
Elijah scheint zu einer Frage ansetzen zu wollen, aber eine aufgebrachte Stimme unterbricht ihn:
"Was geht hier vor sich?"
Mein Kopf schnellt zu dem Treppengeländer eine Ebene über uns hoch, ebenso wie Elijahs und Kols. Kol gibt mich frei und verschränkt die Arme. "Ich erweise diesem Mädchen nur die Gastfreundschaft, sie hinauszubegleiten. Ich nehme an, du brauchst sie nicht mehr?"
Klaus' Augen verengen sich zu Schlitzen, und einen Herzschlag später hat er mich am Arm gepackt und zerrt mich zur Tür hinaus. "Wenn ich mich recht erinnere, willst du wissen wo dein Taugenichts von Bruder ist. Also komm mit."
Über meine Schulter hinweg sehe ich, kurz bevor die Haustür hinter uns zuschlägt, Kol und Elijah; der eine schaut mir mit einem amüsierten Funkeln nach, der andere neugierig, wenn nicht sogar besorgt.

DesideriumWhere stories live. Discover now