Kapitel 36: 13. Dezember 1887

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Es ist nach Mitternacht. New Orleans schläft nie, aber es schlummert.
 Nachdem ich Freya ins Bett gelegt und mich von ihrem Anblick losgerissen habe, den ich geschlagene zehn Minuten bewunderte, habe ich Nik einen Kuss gegeben, trotz des Risikos, dass er aufwachen könnte, und bin nach unten, um meinen Mantel und Schuhe anzuziehen.
 Ich entferne mich von den lebhaften Straßen und wandere durch ein ruhiges Eck, von dem ich weiß, dass hier Hexen beheimatet sind. Vielleicht Genevieves Hexen.
 "Ein neunzehnjähriges Mädchen alleine in den düsteren Gassen einer Blutstadt."
 Beim Klang der Stimme fahre ich herum, doch ich sehe nur Schatten.
 Die Stimme lacht, hinter mir. "Zu langsam."
 Wieder wirble ich herum, wieder nichts.
 "Immer noch zu langsam." Jetzt ist sie auf dem Dach.
 Ich verschränke die Arme und schaue nach oben. "Das Spiel wird mir zu blöd. Zeig dich."
 Ein erneutes Lachen. Das Aufkommen von Füßen auf Boden. Eine Silhouette.
 Ein unbekannter Vampir betritt  mein Sichtfeld. Er hebt einen Arm. "Hier bin ich!" Schwarze Haare, die ihm tief in die Stirn fallen. Rote Haut um die Augen.
 "Was willst du?" Elijah hat mir von diesem Symptom erzählt. Gerötete Haut bei Vampiren. Es verspricht nichts Gutes.
 "Willst du gar nicht wissen, wer ich bin, Chloe?"
 Bei der Erwähnung meines Namens versteife ich mich. "Anscheinend weißt du, wer ich bin, und das reicht", erwidere ich hochmütig.
 Der Vampir grinst, wordurch eine Reihe verfaulter Zähne zum Vorschein kommt. "Hört, hört. Die Gerüchte über Klaus' Mädchen scheinen zu stimmen."
 Ich will gar nicht wissen, was das für Gerüchte sind. Vor mir steht offensichtlich ein den Mikaelsons feindlich gestimmter Vampir, und Feinde erzählen das schlimmste über den anderen.
 Er kommt einen Schritt auf mich zu. Ich wappne mich, indem ich eine kampfbereite Stellung einnehme, doch bevor er auf mich losgehen kann, fällt er um. Hat diese Krankheit, die die Hexen unter den Vampiren der Gosse verbreitet haben, so schnell zugeschlagen?
 Etwas verwirrt richte ich mich wieder auf und lausche auf den Herzschlag, der sich zu meiner Linken befindet. Ich drehe mich um und erblicke flammendes Haar.
 Mit verschränkten Armen sage ich: "Genevieve. Ich war gerade auf der Suche nach dir."
 Die Hexe löst sich nun ganz aus den Schatten. Das Laternenlicht scheint sich auf ihrer blassen Haut zu reflektieren. "Das sehe ich", entgegnet sie mit einem Blick auf den ausgeschalteten Vampir.
 "Was machst du hier?" Wie kann es sein, dass sie mich zuerst gefunden hat? Mein Plan ist es gewesen, die Oberhand zu gewinnen.
 "Nicht relevant." Sie wirft einen Blick in den Sternenhimmel. "Ich habe nicht viel Zeit. Wie ich sehe, hast du die Geburt überstanden. Glückwunsch. Das hätte ich nicht erwartet. Du hast dich verändert. Ein Jahr ist es her, nicht?"
 Ich gehe nicht auf ihr Spiel ein. "Warum hast du diesen Zauber gesprochen?"
 "Pardon?" Genevieve blickt mich scheinheilig an.
 Ich schnaube. "Die Entführung? Du erinnerst dich? Der Blutzauber?"
 Jetzt stiehlt sich ein kleines Lächeln auf ihre Lippen. "Ach ja. Dieser  Zauber. Trägst du mir das immer noch nach? Jetzt, wo dein Haus das Glück dieser Welt beheimatet?"
 "Spiel nicht die emphatische Hexe." Darauf bin ich vielleicht letztes Mal hineingefallen, aber heute nicht. Ich habe die Oberhand. Sie schafft es kein zweites Mal, mich zu beeinflussen. "Sag mir, warum du es getan hast."
 Genevieve schlendert zu dem Vampir hin und legt ihre Hand an seine Schläfe. Kurz schließt sie die Augen, dann explodiert die Welt.
 Instinktiv kneife ich die Augen zusammen, noch bevor das Licht mich erreichen kann. Wärme huscht an mir vorbei, doch so schnell wie sie gekommen ist, verschwindet sie auch schon wieder. Ich öffne die Augen und merke, dass ich im Staub der Gasse knie. Der Vampir ist verschwunden. An seiner Stelle prangt ein Rußfleck auf dem Boden. Genevieve erhebt sich und lächelt mich sorgenlos an.
 "Entschuldige. Ich konnte nicht riskieren, dass die Krankheitserreger außer Kontrolle geraten."
 "War er tot?", frage ich, ohne zu wissen warum.
 Sie schüttelt den Kopf. "Bewusstlos." Im gleichen Atemzug schiebt sie hinterher: "Wollen wir etwas trinken gehen?"
 Misstrauisch beäuge ich sie und versuche abzuschätzen, ob sie scherzt. Ihre Miene könnte nicht unschuldiger erscheinen. "Ich bevorzuge es, erst deine Antwort zu hören."
 Ein Lächeln ziert ihre Lippen. Sie neigt leicht den Kopf. "Ich gebe dir eine Antwort, sobald wir etwas trinken. In einem Lokal. Denn ich bevorzuge es, danach noch zu leben."  
 Seufzend willige ich ein. Aus irgendeinem Grund finde ich Genevieve interessant, faszinierend. Ihre Art mit Dingen umzugehen, die Unschuld, obwohl sie so viel Schlechtes getan hat. 

DesideriumWhere stories live. Discover now