Kapitel 29: Geschichten bei Nacht

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"Kannst du etwas sehen?"
 Klaus antwortet nicht. Seine Augen starren in die Finsternis.
 Ich drehe mich auf dem Beifahrersitz nach hinten, um sicher zu gehen, dass es Stefan gut geht. Das Licht der Straßenlaterne taucht die eine Hälfte seines Gesichts in Schatten, sodass ich seine Miene nicht erkennen kann. Behutsam nehme ich seine Hand und gebe ihr einen leichten Druck. "Alles okay?"
 Er neigt sich ein Stück nach links, sodass sein Gesicht nun komplett verschluckt ist. "Ging mir schon mal besser."
 Wenigstens redet er weiterhin mit mir.
 Auf einmal löst sich Nik aus seiner Starre und fährt zu meinem Bruder herum. Mit einem wölfischen Blick funkelt er ihn an. "Dein Verhalten deiner Schwester gegenüber habe ich lange genug gebilligt", knurrt er, seine Stimme rau und gefährlich. "Das hat jetzt ein Ende. Du wirst da raus gehen, dich an den Plan halten und Chloe nicht zur Last fallen. Hast du mich verstanden, Stefan? Denn andernfalls werde ich dich wieder anketten und ausbluten lassen und anschließend in dein trautes Heim werfen, das du als mein Verlies kennst." 
 Stefan kneift die Augen zusammen. Einen Herzschlag lang befürchte ich, dass er zur Gegenrede ansetzen wird, aber dann senkt er den Blick und nickt kurz.
 Klaus Miene hellt sich auf und er klatscht zufrieden in die Hände. "Dann ist ja alles geklärt. Liebes, ich hoffe es macht dir nichts aus, die letzten Meter zum Steinkreis zu laufen." 

"Klaus ist nicht einfach", sage ich. Als wüsste mein Bruder es nicht schon längst. Er hält sich noch immer den Kopf, obwohl die Beule schon längst abgeschwollen ist und ich das Blut weggewischt habe. "Wieso hat er dich gegen den Laternenpfahl geworfen?"
 Nun nimmt er doch die Hand von der nicht mehr vorhandenen Platzwunde und steckt sie in seine Jackentasche. Auch ich habe meine in der Jackentasche. So laufen wir nebeneinander her, zwei Menschen in den irischen Tälern. Nik meinte, er nehme lieber einen anderen Weg, falls die Hexen unser Kommen überwachen.  
 "Er wollte, dass ich etwas für ihn mache", murmelt Stefan. "Aber ich habe Nein gesagt."
 Er ist immer noch nicht er selbst, das merke ich an der Art wie er spricht und sich verhält. Bevor das geschieht, muss erst Lexi kommen. Wofür ich Damon brauche. Alles scheint auf einander aufzubauen.
 "Was war dieses Etwas?" Wenn Klaus ihn nach seiner Weigerung gegen die Laterne gestoßen hat, muss es etwas sehr Wichtiges gewesen sein.
 Stefan vermeidet es, mich anzusehen. "Nichts, was jetzt noch eine Bedeutung hat."
 Im selben Moment, in dem er die Worte von sich gibt, weiß ich, dass er lügt. Ich bin mit ihm zusammen aufgewachsen; mit der Zeit lernt man, diese Person zu durchschauen.  
 "Hast du ihn noch?" Er versucht, mich auf andere Gedanken zu bringen, mich von der Lüge abzulenken. Ich lasse ihn gewähren.
 Mit einem Nicken bejahe ich und umgreife den Ring in meiner Jackentasche noch fester. Nik hat ihn mir vorhin in die Hand gedrückt; mit seinem Anblick sind die Erinnerungen an das Schmuckstück mit einem Mal zurück gekommen, vollkommen frei von Nebel.
 "Vertraust du Klaus?" Forsch blickt mich Stefan von der Seite an; ich tue so, als ob ich es nicht bemerken würde.
 Über diese Frage muss ich nachdenken. "Ich vertraue Nik", antworte ich langsam. "Ob ich Klaus vertraue, weiß ich nicht." Der Flughafen blitzt in meinem Geist auf. Klaus' Schläge. "Aber der Plan ist von Nik. Klaus würde mir in diesem Jahrhundert nicht mehr helfen."
 Stefan schweigt darauf.
 Ich atme tief ein. Der Atem entweicht mir zitternd. Ich zwinge mich, mich auf etwas anderes zu konzentrieren. Die Umgebung. Ja, Irland ist wirklich schön. Die grünen Wiesen, der blaue Himmel mit den Schäfchenwolken ... nur blöd, dass es Nacht ist und man nichts davon erkennen kann. Selbst die Sterne haben sich heute versteckt.
 "Warum?"
 Ich wende mich meinem Bruder wieder zu und ziehe fragend eine Augenbraue nach oben. "Hm?"
 "Was ist zwischen euch passiert? Ich dachte, Klaus hilft nie irgendjemandem, wenn es nicht ihm selbst hilft."
 Ein Schnauben entweicht mir. Diese Frage musste ja irgendwann einmal kommen. Stefan ist nicht dumm. Und außerdem ein Vampir. Vermutlich weiß er, was auf der Flugzeugtoilette vorgefallen ist.
 "Es ist ... kompliziert. Eine lange Geschichte."
 "Dann erzähl sie. Bis zum Steinkreis ist es noch eine Weile." Ich lächle zu ihm hoch. Doch, da ist er. In diesem Moment ist es Stefan, mit dem ich rede, der sich endlich aus seinem Versteck hinter dem schweigsamen Ripper gewagt hat.
 "Also gut", willige ich schließlich ein. "Du weißt noch, dass Damon und ich dich gesucht haben. Dazu benötigten wir das Vertrauen der Mikaelsons, denn wir vermuteten, dass sie dich festhielten. Irgendwie ..." Ich seufze. "Irgendwie folgte das eine auf das andere und ehe ich wusste, wie mir geschah, war ich Hals über Kopf in Niklaus verliebt. Es war eine wunderschöne Zeit; sie hatte etwas Magisches an sich. Ich war ein Teil der Mikaelsons. Man akzeptierte und liebte mich. Naja, mit einer Ausnahme... Aber Finns Abneigung mir gegenüber beruht auf Gegenseitigkeit. Es ging sogar so weit, dass Nik und ich ein Kind erwarteten."
 "Wie -", setzt Stefan an, doch ich drücke leicht seinen Arm, um ihn zum Schweigen zu bringen.
 "Ich erzähle dir nur das, was essenziell zur Geschichte beiträgt. Soll ich fortfahren?"
 Er nickt.
 Ich schneide eine Grimasse. "Jetzt hast du mich rausgebracht. Um den Rest zusammenzufassen: Ich habe etwas gemacht, das in Nik unglaublichen Hass auf mich geweckt hat. Ich glaube, er hat es nicht über das Herz gebracht, mich zu töten, also hat er ein paar Vampire und Werwölfe aufgehetzt und mich aus der Stadt gejagt. Nach einer Zeit als blutrünstiges Ungeheuer, das die Menschlichkeit ausgeschaltet hat, hat mich der mittelamerikanischer Hexenclan gefunden und mich zu das gemacht, was ich heute bin - ein Mensch."
 Aufs Neue schweigt er eine Weile, bevor er wieder etwas sagt. Vielleicht hat ihn die Sache mit dem blutrünstigen Ungeheuer an etwas erinnert. "Was hast du gemacht? Was kann so schlimm sein, dass es die Liebe eines Mikaelsons in so großen Hass verwandelt?"
 Ich stoße ein Lachen aus, auch wenn mir bei dem Gedanken nicht nach Lachen ist. "Etwas sehr Schlimmes."
 "Was war es?"
 "Nichts, was jetzt noch Bedeutung hat", erwidere ich und wiederholte somit seine Worte von vorhin. Er scheint den Wink zu verstehen und fragt nicht weiter nach. Einmal eine Geschichte erzählt, juckt es mich in den Fingerspitzen, eine weitere zu erzählen. "Wusstest du, dass ich die letzten vier Jahre hier gelebt habe? Das heißt ... ich lebe immer noch hier." Irgendwie hat sich in meinem Bewusstsein die Verbindung von Irland und Zuhause losgelöst und ist zu New Orleans und Zuhause geworden. Alte Gewohnheiten lassen sich nur schwer ändern. "Früher hatten meine Freundin Livia und ich eine Wohngemeinschaft, aber nach einem Jahr haben wir das beendet. Unsere Tagesroutinen waren einfach nicht dieselben.
Irgendwann hat mich dann die Nachricht der Hexen erreicht. Sie haben mich zu sich bestellt ... ich bin nur gekommen, weil sie gedroht haben, Damon etwas anzutun. So ist es zustande gekommen. Weg war meine Eisenkraut-Kette, im Austausch habe ich eine Aufgabe bekommen: In das Haus der Mikaelsons einzudringen und einen Gegenstand zu stehlen."
 Das alles scheint Stefan nicht so brennend zu interessieren. "Was ist das Letzte, das du von unserem Bruder gesehen hast?"
 Ich verziehe das Gesicht bei der Erinnerung. Um mich vor den möglichen Konsequenzen zu schützen, die es mit sich bringen würde, zu lange an meine verlorene Familie zu denken, habe ich während der letzten Tage nicht übermäßig viel an Damon gedacht, den der Tod erwartet, wenn ich bis zum Ablauf der Frist nicht bei den Hexen auftauche.
 "Er war an einem Pfahl gekettet. Er hielt den Kopf gesenkt, hat nicht einmal aufgesehen, als ich seinen Namen gerufen habe." Es regnete, sodass seine Haare nass in sein Gesicht fielen. Zuerst habe ich gedacht, er ignoriere mich absichtlich, bis ich realisiert habe, wie blass er geworden ist. "Sie haben ihn ausbluten lassen. Ich bezweifle, dass er überhaupt bei Bewusstsein war."
 "Dann hoffe ich, dass er noch lebt, wenn Klaus ihn findet."
 Ich nicke. "Das hoffe ich auch."

DesideriumWhere stories live. Discover now