Kapitel 20: Tagebücher

3.8K 168 1
                                    

Die Bücher liegen im Geiste vor mir. Dick, verstaubt, älter aussehend als sie sind. Die Seiten der dieser haben sich schon braun verfärbt und an manchen Stellen gewellt. Die Schrift im Inneren ist noch lesbar. Einmal mit schwarzer Tinte, einmal mit blauer, dann einmal mit Blut, weil keine Tinte zur Verfügung gestanden hatte.
 15 sind es ingesamt. 15 Bücher für 147 Jahre als Vampir. Ist das viel? Habe ich wirklich so viel erlebt?  Tatsächlich liegen vor mir auf meinem Bett nur vier Bücher. Meine ersten zwanzig Jahre als Vampir, und meine letzten zwanzig. Die ersten zwei habe ich für verloren geglaubt, aber sie waren die ganze Zeit über im Mikaelson-Anwesen in irgendeinem Keller gewesen. Meine letzten zwei trage ich immer mit herum, egal wohin ich gehe. Eine nervige Angewohnheit, vielleicht auch Paranoia. Obwohl ich das Vampirleben vergessen wollte, habe ich nie aufgehört, einen Teil davon bei mir zu halten.
 Ich habe sie nie gelesen. Geschrieben habe ich Wort um Wort, Satz um Satz, Seite um Seite für andernthalb Jahrhunderte, aber meine Werke habe ich niemals gelesen. Das meiste davon ist wahrscheinlich auch nicht spannend, aber es ist mein Leben. Und dieses Leben kann ich nicht vergessen, ich kann es nicht von mir nehmen, nicht von mir abgrenzen. Es ist meine Vergangenheit.
 "Was ist jetzt?", fragt Livia ungeduldig.
 Sie sitzt mir gegenüber am Fußende des Bettes, die Beine überkreuzt und mit den Fingern einen Rhythmus auf ihr Knie trommelnd.
 Sie ist meine Gegenwart, und Teil meiner Zukunft. Sie ist meine beste Freundin, aber sie weiß nichts über mich. Nicht woher ich komme, wann ich geboren bin, wie ich wirklich heiße. Meine Familie.
 Elijah ist nicht da um es zu verhindern. Irland ist ein ungewisses Unterfangen. Ich weiß nicht, ob ich zurückkomme. Ob unser Plan aufgeht. Was danach sein wird. Und ich will meine Freundin nicht in Unwissenheit lassen.
 Wenn ich es ihr selbst sage, hat sie keine Zeit, es zu verarbeiten. Wenn sie es liest, hat sie Zeit, mehr als genug. Ich will nicht da sein, wenn sie es erfährt.
 Ich schiebe die vier Bücher auf sie zu; sie nimmt das obere vom Stapel und dreht es in ihren Händen.
 "Vorsicht", ermahne ich sie. "Sie sind alt."
 Livia schlägt die erste Seite mit Fingerspitzen auf und überfliegt die ersten Zeilen. Ich weiß noch, was ich damals geschrieben habe: "Das ist meine Geschichte. Chloe Salvatores Geschichte. Ich bin in einer wohlhabenden Familie aufgewachsen, zusammen mit meinen Brüdern Stefan und Damon. Geboren wurde ich am 2. Januar 1845, meine Mutter Lillian starb während meiner Jugend und mein Vater in meinem 19. Lebensjahr, meinem ersten Jahr als Vampir."  
 Damals war ich an dem Eichenholztisch in unserem Wohnzimmer gesessen un habe überlegt, was ich zuerst schreiben sollte. Ich habe mich für die wichtigsten Informationen entschieden.
 Livia schaut von dem Satz, den sie gerade gelesen hat, auf. In ihrem Gesicht spiegeln sich Unglaube, Zweifel, Verwirrung. Ich bringe ich schwaches Lächeln zustande.
 "Es ist alles wahr. Jede einzelne Seite davon ist wahr. Les ... Les es einfach, und dann kannst du mich immer noch dazu ausfragen."
 Livia weiß, dass ich gehe. Sie hat natürlich Fragen gestellt, aber wie immer habe ich nur die einfachsten beantwortet. "Wohin gehst du?" - "Nach Irland." "Wie lange?" - "Ein paar Tage." "Warum?" - Keine Antwort.
 Deswegen wundert sie sich nicht, als ich mit einem Ruck aufstehe, meine Tasche, die ich vor einer halben Stunde eilig gepackt habe, über die Schulter werfe und das Hotelzimmer verlasse. Ich muss nichts mehr sagen, ich habe mich schon von ihr verabschiedet. 
 Nik hat mir geholfen, Stefan die Treppen hochzubringen, weil er immer noch sehr schwach war. In der Küche haben wir ihm mehrere Blutbeutel gegeben, aber ich bin mir nicht sicher, ob das wirklich so gut war. Menschenblut hatte noch nie einen guten Einfluss auf meinen Bruder, und das hat sich über den langen Zeitraum, den er versteinert verbracht hatte, bestimmt nicht geändert. Und ich habe keine Ahnung, wo Lexi ist, um mir zu helfen, ihn wiederherzustellen.
 Als ich sicher war, dass Stefan stabil ist, bin ich schnell zum Hotel gegangen und habe meinen Rucksack gepackt. Nur das nötigste, Reisepass, Wechselkleidung, Geld. Nik ist für das wirklich wichtige zuständig. Den Ring.
 Elijah hat mir im Flur die zwei Bücher in die Hand gedrückt, mit den Worten "Du weißt am besten, was du mit ihnen anfangen kannst." Ob er damit gemeint hat, dass ich Livia alles erzählen kann? Das bezweifle ich. Er hat es das letzte Mal verhindert. Nur um sicher zu gehen habe ich hinter meinen neuesten Eintrag geschrieben, dass Livia zu Elijah Mikaelson gehen soll, wenn sie Fragen hat und ich noch nicht zurück bin. Wenn sie sich auf der Straße nach ihm erkundigt, kann es nicht lange dauern, bis er sie findet. Sie soll den richtigen Leuten in die Hände fallen.
 Das einzige, was ich nicht kontrollieren kann, ist, ob Elijah ihre Erinnerungen wieder manipuliert oder nicht.
 Vor dem Hotel wartet ein Auto auf mich. EinTaxi. Ich steige ein und es setzt sich in Bewegung. 
 "Ich hoffe, du hast an den Ring gedacht?"
 Klaus, der neben mir sitzt, schenkt mir ein Lächeln und nimmt meine Hand. Wie einen seltsamen Gegenstand hält er sie vor sich in die Luft und betrachtet sie. Ich halte die Luft an, während er mit seinem Daumen die Knöchel entlangstreift, bis er an dem des Ringfingers angekommen ist. Dann lässt er sie wieder fallen.
 "Für wen hälst du mich, Chloeylein?"
 Ich ziehe meine Hand hastig zurück und drehe meinen Kopf der Scheibe zu. Die Häuser außen werden niedriger, und dunkler, während wir uns immer weiter von unserem Startpunkt entfernen.
 Als mir die Umgebung zu langweilig wird, beobachte ich Stefan, oder besser gesagt seinen Nacken, denn er sitzt auf dem Beifahrersitz vor mir. Abwechselnd spannen sich die Nackenmuskeln an, dann entpannen sie sich wieder. Ich sehe, wie seine Hand zittert. Es war auch eine blöde Idee gewesen, ihn nach vorne zu setzen, neben den Taxifahrer. Klaus' blöde Idee.
Ich werfe ihm einen unauffälligen Blick zu, aber er schaut nur grießgrämig aus dem Fenster. Wahrscheinlich brütet er irgendetwas vor sich hin. Ich lehne mich nach vorne und berühre sachte Stefans Hand. Augenblicklich versteift er sich wieder.
 Seine letzte Erinnerung an mich, bevor Klaus ihn in den Kerker gesperrt hat, ist, wie mich zu Boden gerungen hat und mich aussaugen wollte. Und als nächstes rette ich ihm das Leben, indem er von meinem Blut trinkt.
 Er hat nicht viel mit mir geredet seit wir ihn aus dem Keller geholt haben, und außer dem Lächeln, das er mir geschenkt hat, hat er auch keine weitere Anstalten gemacht, Kontakt mit mir aufzunehmen. Ich kann mir viele Gründe dafür vorstellen, doch es gibt nur einen, den ich glauben will: Dass er einfach noch überfordert ist und Zeit braucht, sich einzuleben. Während ich kurz im Hotel war, haben Elijah und Rebekah ihm einen Crash-Kurs in Sachen Neuzeit erteilt, und ihm die Benutzung eines Handys erläutert. Stefan hat neue Kleidung bekommen, und schon hat man ihn in ein Auto gesteckt, mit Klaus. Ich kann verstehen, wenn er etwas durcheinander ist.
 Aber deshalb muss er sich doch nicht von seiner Schwester abwenden, schießt es mir duch den Kopf. Er wendet sich nicht von mir ab, schimpfe ich mit meiner inneren Stimme. Schließlich hilft er mir gerade, unseren Bruder zu befreien, oder etwa nicht?

DesideriumWo Geschichten leben. Entdecke jetzt