Kapitel 25: 24. 12. 1886

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Ob ich Niklaus Mikaelson liebe?
Ja, ich bin mir zu hundert Prozent sicher.
Ob Nik mich liebt?
Ja. Er hat es zwar noch nie zugegeben, aber ich weiß es trotzdem.

Die Melodie von Jingle Bells klimpert durch die Luft. Miniatur-Eiskristalle haben sich auf der Fensterscheibe ausgebreitet, als ob Jack Frost dagegengehaucht hätte. Schneeflocken fallen in die wunderschöne Schneelandschaft, die aus tausenden Daunenfedern zu bestehen scheint. Im Hof steht der Schneemann, den Bekah und ich gestern gebaut haben. Da wir keine Karotten parat hatten, haben wir ihm einen von Niks Pinsel als Nase verpasst. Kohlesteinchen formen die Augen und den Mund, und auf dem Kopf trägt er Kols Hut. Er hat ihn uns freiwillig übergeben, wir hatten nicht einmal nachfragen müssen. Kaum waren wir mit dem Schneemann fertig gewesen, ist er angeschlendert gekommen und meinte, dem Schneemann stehe der Zylinder besser als ihm.
Als die Jungs beginnen, die Holzscheite auf einen Haufen zu schmeißen, richte ich meinen Blick wieder auf sie. Vor einer halben Stunde ist Nik mit Elijah und Finn rausgegangen, um das Freudenfeuer vorzubereiten.
Es soll fertig sein, bevor es dunkel wird, aber bis gerade eben hatten meine Urvampire noch keine großartigen Fortschritte gemacht. Zuerst hatten sie sich nicht einigen können, woher sie das Holz holen sollten, da sie vergessen hatten, vorzeitig eines zu besorgen. Niklaus hatte es vom Nachbarhaus stehlen wollen, während Finn eher für das Dorflager war. Elijah war gegen beiden der Vorschläge gewesen und hat sie einfach nur gescholten, dass sie nicht schon eher angefangen haben, das Feuerholz zu sammeln.
Letzten Endes sind sie losgezogen und vor zehn Minuten mit drei Karren Holz zurückgekehrt, genug, um ein Feuer von der Größe, wie Niklaus es mir beschrieben hat, zu bewerkstelligen.
Vor zwei Monaten bin ich ins Anwesen der Mikaelsons gezogen. Im Laufe des Sommers haben Nik und ich uns ... verliebt. Er hat mich offiziell seinen Geschwistern vorgestellt und mir seine Geschichte erzählt. Wir haben eine von vielen Gemeinsamkeiten gefunden: Das Malen. Fast jeden Tag sind wir mindestens einmal in seinem Atelier. Vor ein paar Wochen haben wir zusammen ein Bild gemalt, zwei Menschen auf einer Blumenwiese. Ich bin das Mädchen in seinen Armen. Es dient als Mechanismus für ein Versteck in der Wand. Ein Porträt hat Nik auch schon von mir angefertigt, doch er hat maßlos übertrieben. Ich erkenne mich in dem Aquarellbild kaum wieder, aber die anderen sind der festen Überzeugung, dass ich perfekt getroffen wurde.

Elijah hat für die Arbeit sein Jackett ausgezogen. Mit hochgekrempelten Ärmeln nimmt er Holzscheite vom Karren und reicht sie abwechselnd an Finn und Nik weiter. Ein kleiner, systematisch angelegter Haufen steht schon in der Mitte des Innenhofes. Niklaus hat sich nicht die Mühe gemacht, eine Jacke anzuziehen, und legt mit seinem weißen Leinenhemd einen Scheit auf das Gerüst. Von allen Farben würde ich sagen, dass Weiß ihm am besten steht. Er sieht darin nicht so zornig aus, wenn er eine grimmige Miene macht, was ihm sehr oft passiert. Mit seinen hellen Haaren und den blauen Augen schließt die Farbe sich an das Bild eines Engels an. Himmel, wenn Bekah meine Gedanken hören könnte, würde sie schon vor Lachen auf dem Boden liegen.
"Chloey, steh nicht nur faul rum, hilf mir!"
Ich drehe mich zu Zoey um, die mit übergroßen Backhandschuhen ins Zimmer gestürzt ist. Bekahs Klavierspiel stoppt kurz, einen Moment später setzt sie es wieder fort, diesmal mit einer personalisierten Version von Hark the Herals Angels sing.
"Jetzt nicht, Zoey", murmelt Rebekah, während sie auf ihre Noten linst, "Chloey hört mir zu."
Ich habe mich leider dazu bereit erklärt, mir von Bekah Klavierspielen beibringen zu lassen. Sie meint, als erste Übung ist das Hören sehr wichtig, deswegen muss ich ihr seit einer Woche regelmäßig beim Spielen zu hören. Heute Vormittag habe ich gleichzeitig mit Nik und Zoey den Baum geschmückt, und irgendwie sind die Stunden seitdem nur so verflogen. Den ganzen Tag habe ich keinen Schritt aus dem weihnachtlich dekorierten Zimmer gemacht.
"Schon gut", seufze ich. "Ich kann dir morgen wieder zuhören."
Ich folge meiner besten Freundin in die Küche. Die Flure und besonders die Halle haben wir drei weiblichen Bewohner des Hauses in den letzten Tagen mit Lichtergirlanden, Mistelzeigen und allem drum und dran dekoriert, sodass wir keine der Kerzen, die normalerweise als Beleuchtung dienen, entzünden mussten.
Die Theken in der Küche sind vollgemüllt mit Rührtöpfen, Schüsseln, Tellern, Löffeln und Sieben. Eine dünne Mehlschicht bedeckt den Boden, und der eine oder andere Teigspritzer klebt an der Wand, die an die Hauptheke anschließt. Neben dem Herd balanciert ein Turm Tonbecher, die dem Geruch nach zu urteilen alle dasselbe enthalten haben. Blut.
Auf dem Tisch steht schon reichlich Essen. Ein gebratener Truthahn ganz zuoberst, Kürbiskuchen, Süßkartoffeln und Cranberrysoße, Plätzchen mit Marshmallowüberzug. Auf dem Herd kocht ein großer Topf Punsch, der einen verführerischen Duft nach Zimt und Blut verströmt.
So lecker das alles auch aussieht, eine Frage bleibt noch ... "Wer soll das bitte schön alles essen?", frage ich, nachdem ich mich genügend umgeschaut habe. "Wir sind doch nur zu siebt!"
"Und vier davon sind Jungs. Jetzt nimm die Spritze und füll die Muffins mit Blut." Zoey drückt mir einen pipettenähnlichen Metallstab in die Hand und schiebt mich zu der Ablage, auf der zwei Bleche Beerenmuffins vor sich hindampfen und die Luft mit einem süßlichen Geruch schwängern.
"Mit einer Spritze?", hake ich verwirrt nach. "Warum hast du es nicht gleich in den Teig gerührt?"
Zoey ist kurz am anderen Ende der Küche, dann wieder mit Vampirgeschwindigkeit bei mir und stellt neben die Muffins eine Schüssel des roten Sirups. Wahrscheinlich hat sie das Blut mit irgendetwas vermischt, denn es ist dickflüssiger, als es eigentlich sein sollte. "Wenn man später in die Muffins beißt, hat man gleich einen Mund voll Blut. Das ist doch viel leckerer, als wenn er nur nach Blut schmecken würde."
Mit diesen Worten ist sie beim Punsch und fängt an, weitere Gewürze hinzuzugeben.
Ich füge mich meinem Schicksal, sauge die Pipette mit Blut voll, steche in den noch heißen Muffin und leere die Spritze bis auf den letzten Tropfen. Dann wende ich mich dem nächsten zu.
"Ich verstehe sowieso nicht, warum du menschliche Nahrung kochst. Wir sind Vampire. Du würdest dir viel Arbeit ersparen, wenn du uns einfach einen Kessel Blut hinstellen würdest."
"Ein Kessel Blut?" Sie klingt ironisch. "Ernsthaft? Das ist so ziemlich das am wenigsten Weihnachstlichste, was es überhaupt gibt. Da ist eine Ananas ja noch festlicher."
"Wenigstens bist du besser geworden", stelle ich mit einem Blick auf die köstlich aussehenden Speisen fest. Vor einem halben Jahr hatte sie meinen Bruder Stefan bei sich und wollte für ihn kochen, um ihn von seinem Ripper-Dasein abzulenken, doch dabei hat sie sich geschnitten und er ist auf sie losgegangen. Allgemein sollen ihre Gerichte gerade noch genießbar gewesen sein.
Ursprünglich hat Damon mich beauftagt, in Niks Nähe zu bleiben, um ihn zu überreden, Stefan freizulassen. Er hat mich angegriffen, worauf Klaus ihn in das Verlies gesperrt hat. Einmal war ich seitdem unten, aber Nik hat mich entdeckt und wieder mit hochgeschleppt. An dem Tag haben wir uns das erste Mal gestritten. Er war furchtbar wütend, dass ich meine Sicherheit auf Spiel gesetzt habe und in den Keller gegangen bin. Die Menschen, die er liebt, beschützt Niklaus, hat Zoey mir einmal gesagt. Im Nachhinein kann ich seine Reaktion verstehen, aber in dem Moment bin ich mindestens genauso zornig gewesen wie er.
Bei dem Gedanken an meine Brüder bildet sich ein Kloß in meinem Hals. Ich vermisse sie beide schrecklich. Wir waren früher so gut wie nie getrennt gewesen, haben alles zusammen gemacht, zusammen gewohnt. Aber hierher wollte Damon nicht mit. Er ist der Meinung, dass die Mikaelsons nicht gut für mich sind. Und dabei wollte er, dass ich mich mit ihnen anfreunde. Er versteht nicht, wie sehr ich Niklaus liebe.
Ich liebe ihn so sehr, dass ich es manchmal für eine Krankheit halte.
"Nein, nicht so!", ruft Zoey auf einmal und reißt mir energisch die Spritze aus der Hand. "Du machst es ganz falsch. Das ist zu viel, die platzen doch." Seufzend streicht sie sich eine schwarze Strähne aus der Stirn. "Du bist mir keine große Hilfe. Geh, sag den Jungs Bescheid, dass das Essen in zehn Minuten fertig ist. Deck den Tisch schon mal."
Ich verlasse Zoey und die Küche - worüber ich nicht einmal so unglücklich bin. Die Stufen runter ins Erdgeschoss knarzen - kein Wunder, das Haus steht schon eine ganze Weile. Von der hohen Decke der Eingangshalle hängt an einem lagen Faden ein Mistelzweig, sodass er ein paar Schritte vor der Haustür auf Kopfhöhe schwebt. Das ist vielleicht eine Arbeit gewesen, den aufzuhängen ... Um das Treppengeländer schlängelt sich eine Ranke aus Mistel- und Tannenzweigen, durchsetzt mit runden Kugeln. Der Geruch nach Tannenholz ist so stark, dass er im ganzen Haus zu vernehmen ist.
Als ich gerade an der Türe vorbeigehen will, wird sie aufgerissen und jemand hält mir seine Hände vor die Augen. Sie riechen nicht wie sonst nach Farbe, sondern nach Harz und Wald.
Ich grinse. "Nik."
"Chloey", wispert Nik in mein Ohr. Er steht so nahe bei mir, dass der Geruch von Zitronengras in meine Nase steigt. Sein Atem streift meine Wange. Schwungvoll dreht er mich um und drückt mich gegen sich. "Du stehst unter einem Mistelzweig."
Ich schaue nach oben. Über unseren Köpfen baumelt das grüne Blätterdickicht; es schwinkt noch leicht von dem Luftzug nach, den Nik mitgebracht hat.
"Bereit für deinen Weihnachtskuss?" In seinen Augen funkelt das Grün auf und mit einem breiten Grinsen kommt er meinem Gesicht näher. Als unsere Lippen sich berühren, öffne ich leicht meinen Mund und genieße den Kuss. Sein Atem ist noch kalt von draußen. Seine Hand fährt zu meinen Haaren und zieht leicht an dem Zopf, den ich mir gebunden habe.
Ich löse mich von ihm und richte ihn wieder. "Das war aber kein besonders weihnachtlicher Kuss", necke ich ihn.
Nik zwinkert mir zu, nimmt mich an den Hüften und dreht mich einmal im Kreis, sodass ich laut aufkreische. "Nik, lass mich runter!"
Lachend setzt er mich ab und drückt mir einen Kuss auf die Stirn. "Das Freudenfeuer wird fantastisch werden, Liebes. Es wird dir gefallen."
Ich küsse ihn lächelnd auf die Wange und ziehe ihn an der Hand ins Klavierzimmer. "Zoey hat das Essen gleich fertig."
Nik kennt Zoey noch länger als ich, deshalb ist es nicht verwunderlich, dass er das Gesicht verzieht. "Wie viel ist verbrannt?"
"Gar nichts", meint Rebekah, denn genau in diesem Moment betreten wir das Zimmer. Sie zwinkert mir zu. "Du siehst jedenfalls nicht sonderlich verstört aus."
Ich nicke. "Verbrannt ist nichts. Nur..." Ich zucke die Schultern. "Ihr werdet es schon selbst sehen."
Zehn Minuten später sitzen alle am Tisch: Nik am Kopfende, ich an seiner rechten, Elijah an seiner linken Seite. Neben mir Kol und Finn, neben Elijah Zoey und Rebekah.
Weihnachten bei den Mikaelsons ist nicht so, wie ich es von meiner Familie gewohnt bin. Gegessen wird ohne ein einleitendes Gebet oder ähnliches. Es hätte mich allerdings auch ziemlich gewundert, wenn Nik auf einmal die Hände faltet und anfangen würde, zu beten. Nein, dieser Brauch soll schön bei Papa und Mama Salvatore bleiben.
Das Blut ist wirklich überall: In der Soße, im Braten, in den Kartoffeln. Ich beschwere mich nicht, auf keinen Fall, dafür schmeckt es zu gut. Aber es kommt mir schändlich vor, das menschliche Essen so zu missbrauchen.
Nachdem alle ausreichend gegessen haben (und das haben sie; von all dem, was Zoey gekocht hat und von dem dachte, dass es zu viel sei, sind nur noch ein paar Reste übrig, die mit dem morgigen Frühstück auch verschwunden sein werden), gehen wir in den Hof. Die Sonne ist schon untergegangen und viele kleine Sterne erhellen den Weihnachtsabend.
Wir stellen uns in einem kleinen Kreis um den Scheiterhaufen. Nik tritt vor, entzündet ein Streichholz und hält es an die kleineren Äste, die er vorher mit einer brennbaren Flüssigkeit überschüttet hatte. Sie fangen augenblicklich Feuer.
Augenblicklich trete ich einen Schritt zurück, als mir die Hitze ins Gesicht schlägt. Nik stellt sich neben mich und nimmt meine Hand. Gemeinsam schauen wir stumm zu, wie die Flammen das Holz fressen. Die winterliche Stille, lediglich unterbrochen durch die ferne Geräusche der Stadt, das Knistern und die Wärme des Feuers, der Geruch nach verbranntem Holz, der Druck von Niks Hand - all das macht den Moment perfekt. Ich halte den Blick auf einen Punkt in den blauen Flammen gerichtet, und versuche, den Augenblick einzuspeichern, damit ich mich mein Leben lang daran zurückerinnern kann.
Schließlich löst Nik sachte seine Finger von meinen und macht einen Schritt auf das Feuer zu. Wir beobachten ihn, während er einen Zettel aus seiner Hosentasche hervornimmt, ihn nachdenklich betrachtet, und ihn dann ins Feuer wirft. Kurz lodern die Flammen um das Papier heller auf, dann ist der Wunsch nur noch Asche.
Nach der Reihe treten nun Rebekah, Elijah, Zoey, Kol und Finn nach vorne und verbrennen ihre Zettel. Schließlich bin ich dran. Nik gibt mir meinen Zettel, den er für mich aufbewahrt hat, da mein Kleid keine Taschen hat. Während ich auf das Freudenfeuer zulaufe, scheint die Zeit stehen zu bleiben. Im Geiste gehe ich noch einmal die Zeilen durch, die ich heute morgen fein säuberlich aufgeschrieben habe.
Ich wünsche mir, dass alles ein gutes Ende nimmt. Für jeden, den ich liebe.
In letzter Zeit ist Nik sehr besorgt. Die Aufstände der Hexen und Vampire, die es auch schon vor meiner Ankuft gab, sind schlimmer geworden, und er versucht verzweifelt, die Kontrolle zu behalten. Elijah hat ihm vorgeschlagen, mit jedem einzelnen Clanoberhaupt persönlich zu sprechen, doch das scheint nichts zu nutzen. Von Tag zu Tag wird Niks Überlegung, Feuer mit Feuer zu bekämpfen, stärker. Die Hexen üben Angriffe auf ihn und seine Familie aus, deshalb hat er mir vor zwei Wochen verboten, alleine in New Oreans umherzustreifen. Aufgrund der Erfahrung mit den Vampiren, die ich vor einem halben Jahr gemacht habe, halte ich mich an dieses Verbot.
Ich will, dass das alles schnell vorbei ist. Vielleicht hilft ja dieser Wunsch.
"Was hast du dir gewünscht?", frage ich später Nik, während wir auf dem Sofa sitzen und Rebekah beim Klavierspielen lauschen.
Er hat einen Arm um mich gelegt und spielt leicht mit einer Locke, die sich aus meiner Frisur gelöst hat. "Wenn ich meinen Wunsch verrate, erfüllt er sich nicht, Liebes", sagt Nik und berührt leicht meine Nasenspitze mit seinem Zeigefinger.
Um Mitternacht machen sich die ersten auf den Weg ins Bett. Von dem gleichmäßigen Kaminprasseln und den Stimmen bin ich schläfrig geworden, doch für heute habe ich mir noch etwas vorgenommen. Ich muss wach bleiben.
Als Nik auch aufsteht und mich mit sich zieht, bleibe ich an der Tür stehen. Er sieht mich fragend an.
"Ich muss noch ein paar Geschenke vorbereiten", erkläre ich. "Ich komm später nach."
Er beugt sich vor und küsst mich leicht. Wie eine Feder streifen seine Lippen meine, doch bevor ich richtig die Augen geschlossen habe, damit ich es genießen kann, ist es schon wieder vorbei und Nik lächelt sein typisches Klaus-Grinsen. "Wenn du noch mehr willst, komm mit mir."
Augenverdrehend wende ich mich von ihm ab. "Bis später", rufe ich ihm über die Schultern zu.
"Gute Nacht", höre ich noch von ihm. Ich lausche kurz. Einen Moment später höre ich, wie die Tür unseres Schlafzimmers zugeht.
Jetzt ist es soweit. Im Klavierzimmer sitzen nur noch Rebekah und Kol. "Ich geh ins Atelier und male ein Bild fertig", sage ich ihnen, flitze in die Halle, werfe mir etwas Warmes über die Schulter, schlüpfe in die Stiefel und bin im nächsten Augenblick draußen.
Es hat wieder angefangen, zu schneien. Dicke Schneeflocken bleiben in meinen Haaren hängen. Fröstelnd ziehe ich den Mantel enger um meine Schultern. Die Stiefel reichen nur bis zu den Knien, sodass die gefütterte Wärme nur bis dorthin geht. Obwohl mein Kleid aus mehreren dicken Stoffschichten besteht, ist mir nicht warm genug.
Aber das nehme ich in Kauf. Ich will unbedingt sehen, wie die berühmte Stadt New Orleans an Weihnachten aussieht. Rebakah hat mir von den tausend Lichtern vorgeschwärmt und dem Punsch, den es an jeder Straßenecke zu kaufen gibt, die Musik ... Ich will dieses Wunder selbst erleben, alleine, ohne jemanden, der mich die ganze Zeit nur ablenken würde. Einmal muss schließlich jedes Verbot gebrochen werden.
Da das Mikaelson-Anwesen mitten in einem Viertel liegt, in dem es hoch hergeht, muss ich nicht lange laufen, bis die Klänge von Trompeten, Geigen, Glocken und Klavieren die Luft erfüllen. Der Geruch von Zimt steigt in meine Nase, doch bevor ich die Quelle orten kann, rieche ich Punsch. Die Menschenmassen sind atemberaubend. Schier tausende Kerzen sind entzündet worden. Überall ist Licht. Ich bin froh, dass ich mich rausgeschlichen habe. Nur ungern hätte ich diesen Anblick verpassen wollen.
Die Menschen diesen Abend schmecken auch besonders gut. Weil Weihnachten ist, trinke ich den jungen Mann nicht ganz aus, sondern lasse ihn nach drei Litern Blut in der Gasse liegen. Irgendjemand wird ihn schon finden, und wenn nicht, war es sein Schicksal, diese Nacht zu sterben.
Als ich mich von meinem dritten Mitternachtssnack löse, spüre ich plötzlich etwas Hartes gegen meine Rippen drücken. Das schnelle Herzklopfen eines Menschen ertönt hinter mir, gemischt mit einem erstaunlicherweise ruhigem Atem.
"Wehre dich nicht, und dir wird nichts passieren", flüstert eine weibliche Stimme.
Seelenruhig drehe ich mich um und mustere die Frau von oben bis unten. Bis sie mit dem Holzpfahl zugestochen hat, bin ich schon längst über alle Berge. Beziehungsweise läge sie mit einem gebrochenen Genick da.
"Jetzt habe ich aber Angst", erwidere ich und grinse.
Die Frau verzieht leicht den Mund und starrt mir angestrengt in die Augen. Auf einmal zuckt ein so heftiger Schmerz durch meinen Kopf, dass ich in die Knie gehe. Mein Gehirn scheint für einen Moment gebraten worden zu sein. Japsend richte ich mich wieder auf und sehe die Hexe mit neuem Respekt an.
"Was willst du von mir?", frage ich.
"Ich will nichts. Ich soll dich nur zu Genevieve bringen."
"Gene wer?" Ich glaube, den Namen schon einmal in einem Gespräch zwischen Nik und Elijah gehört zu haben.
"Genevieve."
Ich schneide eine Grimasse. "Eine Franzosin." Mit der Sprache verbinde ich grausame Erinnerungen aus meiner Kindheit, in denen mein Lehrer mir verzweifelt beibringen wollte, Französisch zu sprechen. "Also gut. Was will Genevieve von mir?"
Die Hexe schließt die Augen, murmelt einen Spruch, und plötzlich werde ich in einen Abgrund gerissen.

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