Kapitel 32: Wiedervereinigung

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Kol hat behauptet, Hexen würden es sogleich bemerken, wenn ein Gegenstand magisch ist oder nicht. Bei unserer Fälschung scheint sich seine Aussage in Luft aufzulösen.
 "Das wird nicht nötig sein."
Der Urvampir ist auf einmal da, wie aus dem Nichts erschienen. Erleichterung macht sich in mir breit, als ich sehe, dass Damons Körper über seiner Schuler liegt. Lässig schlendert er zu uns hinüber, ohne Zweifel im Genuss der Aufmerksameit. Mir fällt auf, dass Damon kein Lebenszeichen von sich gibt. Ist er nur bewusstlos oder ...
 Solia hält in ihrem Geheimgangöffnungsmuster inne und schaut ebenso erschrocken zu Nik, wie wahrscheinlich jede Hexe auf diesem Hügel. Mit Ausnahme von Lumia.
 Ich habe erwartet, dass ihr Lächeln gefriert oder sie in Toben ausbricht, aber das einzige, was sie macht, ist, ihm zuzulächeln.
 Ich halte es nicht mehr aus. Damon, meinen großen Bruder, wiederzusehen, lässt mein logisches Denken aussetzen. Ich habe ihn so vermisst. Er war immer für mich da und ich habe ihn im Stich gelassen. Die ganze Zeit. Jahrelang. Seit einem Jahrhundert.
 Ich stürze auf die beiden zu. Nik hilft mir, ihn auf den Boden zu legen. Während er spricht, fühle ich Damons Stirn, seine Wangen, sein Herzschlag und achte auf nichts um mich herum. Ein Reflex. Stirn: Kalt. Wangen: Kalt, blutleer. Herzschlag: Ganz schwach. Er hat nicht genügend Blut inne, als dass sein Körper das System am Laufen halten kann. Hastig ziehe ich die Jacke aus und schiebe den Pulloverärmel zurück. Halte mein Handgelenk an seine Lippen.
 "Trink", flüstere ich. "Bitte."
 Vage nehme ich wahr, dass Stefan neben mir kniet. Ich will, dass er verschwindet. Es ist zu gefährlich, wenn er mein Blut sieht. Doch Damon ist auch sein Bruder. Ich kann ihm es ihm nicht übelnehmen, dass er sich um sein Wohlergehen sorgt, selbst als Ripper im Schwebezustand.
 "Trink. Mach schon, Damon." Langsam werde ich unruhig. Die natürlichen Instinke eines Vampires lassen es niemals zu, dass die Gelegenheit, Blut zu trinken, verstreicht. Selbst wenn der Vampir bewusstlos ist. "Bitte."
 " ... lediglich eine Umstrukturierung." Jetzt dringen Niks Worte zu mir durch. Davor waren sie in meiner kleinen Welt, die Damon komplett für sich einnahm, nicht vorhanden gewesen. "Der falsche Ring ist nur ein Zeitaufschub. Du bekommst den richtigen, sobald du mir verraten hast, was dein Zirkel damit will."
 Natürlich. Lumias Gabe ermöglicht es, über die materiellen Dinge hinauszusehen. Bestimmt hat sie schon von Anfang unseren Plan durchschaut. Er war schon von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen, spätestens, als ich ihr den Ring gegeben habe und sie gespürt hat, dass er leblos ist. Sorry, Kol. Du hattest doch Recht.
 "Was wir Hexen damit vorhaben, bleibt eine Sache der Hexen." Lumias Stimme erscheint ruhig und geordnet, doch wenn man genauer hinhört, erkennt man die Prise Zorn, das sich untermischt. Vielleicht auch eine Spur Ungeduld.
 "Nicht solange es mit einem Schmuckstück zu tun hat, das meiner  Familie gehört. Du hast die Wahl: Entweder du erklärst mir in Ruhe, was du vorhast, um dann eventuell den originalen Ring zu erhalten, oder du entscheidest dich für die schnellere Variante und weihst dich und deinem Zirkel dem Tode. Durch meine Hand." Klaus' Züge - denn ohne Zweifel ist es nicht mehr Nik, der da spricht - verwandeln sich zu einer grinsenden Visage.  Aus ihrem Versteck gleiten die scharfen Zähne, mit denen jeder Vampir ausgestattet ist. Ich ziehe scharf die Luft ein, als ich beobachte, wie sich seine Pupillen weiten und das Blaugrüne zu einem gelben Ton umschlägt. Wie ein Wolf. Unmöglich. Er hat erzählt ... Sein Wolfsgen schlummert. Für immer in sein Unterbewusstsein gekehrt. Er stößt ein Fauchen aus, das mir durch Mark und Bein geht. Die Hexen zu unseren Seiten weichen verstört zurück, wohingegen Lumia nicht im geringsten beunruhigt wirkt.
 "Verschwende ruhig deine Energie, Urhybrid. Das wird es Esther einfacher machen."
 Auf einmal ist da kein wütendes Tier mehr, sondern nur noch Klaus, doch nicht weniger wütend. Seine Augen sind wieder normal, was mich irgendwie beruhigt. Es ... es ist einfach nicht möglich.
 "Esther?" Seine Stimme ist nicht mehr als ein Knurren, doch in der Totenstille des Hügels überlaut zu vernehmen. "Was hat meine Mutter damit zu tun?"
 "Wir sorgen dafür, dass sie uns unbedeutenden Menschen ein weiteres Mal ihre Anwesenheit schenken wird, damit die Erde ein für alle Mal von Vampiren bereinigt wird. Wir gehen sicher, dass nicht einmal die Monster, die sich Mikaelson nenne, sie noch aufhalten können." Lumia hebt ihre Hände gen Himmel. "Und nun gib uns den Ring, Hybrid."
 Klaus knurrt, Damon hustet und Stefan wirft mich über seine Schulter. Das alles geht so schnell, dass ich keine Zeit habe zu reagieren, da rennt mein kleiner Bruder schon durch die Finsternis, etliche Kilometer vom Steinkreis entfernt.
 Sobald ich die Situation realisiert habe, trommle ich gegen seinen Rücken und schreie mir die Seele aus dem Leib. "WAS SOLL DAS? LASS MICH SOFORT RUNTER! STEFAN! LASS. MICH. RUNTER!"
Er ignoriert mich, als wäre ich lediglich eine Staubflocke, die ihn an der Nase kitzelt. Er läuft schneller, als ich es jemals als Vampir gelaufen bin, schneller, als ich mich erinnern kann gelaufen zu sein. Meine Proteste, meine Forderungen, sofort umzukehren, lassen ihn kalt.
 Schließlich versagt meine Stimme und ich lasse die Entführung erschöpft zu. Nach einigen Minuten habe ich mich sogar an den Rythmus seiner Schritte gewöhnt und schaffe es, die Augen zu schließen.

Einige Stunden später erwache ich. Dämmriges Licht umgibt mich. Ich liege auf einem Bett. In einem Zimmer.
 Ich setze mich auf und ziehe die Jalousien hoch, sodass der Raum hell erleuchtet wird. Die Sonne steht schon hoch am Himmel; es müsste Mittag sein. Ein Blick auf den weiten Platz, die gemütlichen Häuser und ich weiß, wo ich mich befinde: Zurück in Cootehill. Hierher hat Stefan mich gebracht.
 Ein Klopfen an der Tür lässt mich herumfahren. Ich weiß, wer es ist. Klaus würde niemals klopfen.
 "Komm rein."
Zu meiner Überraschung ist es nicht Stefan, der die Tür öffnet. Nein, mein großer Bruder ist derjenige, der durch den Spalt schlüpft und die Tür hinter sich wieder schließt.
 "Damon!" Ich laufe auf ihn zu und schlinge meine Arme um seinen Hals. Drücke ihn ganz fest an mich und vergrabe mein Gesicht in seiner Halsbeuge.
 Damon lacht und tätschelt meinen Rücken. "Schon gut, Schwesterchen."
 Ich ignoriere seinen Versuch, cool zu wirken, und murmle gegen seine Haut: "Ich habe dich vermisst."
 Er erwidert meine Umarmung und küsst meinen Scheitel. "Und ich dich erst."
 Eine Weile stehen wir so da, bis meine Beine anfangen zu kribbeln und wir uns auf die Bettkante setzen.
 "Danke, Chloey."
 "Wofür?"
 "Für meine Rettung. Bei den Hexen war es echt scheiße."
 "Ich habe nichts gemacht."
 "Doch. Du hättest auf diese Nachricht überhaupt nicht zu reagieren brauchen und in Irland bleiben können."
 Ich schmunzle. "Denkst du wirklich, ich würde meinen Bruder aufgeben, nur um nicht von zuhause fort zu müssen?"
 Damon fährt sich durch seine pechschwarzen Haare. Wie sehr mir diese Geste gefehlt hat. "Nein, das denke ich nicht. Ich meine damit, dass du das Wiedersehen mit ... der Urfamilie hättest vermeiden können. Das Leid, das sie dir angetan haben."
 Ich schüttle den Kopf. Unwillkürlich spüre ich, wie sich eine Wand zwischen uns aufbaut, die aus dem vergangenen Jahrundert zu bestehen scheint. "Sie haben mir kein Leid zugefügt. Klaus hat mich verbannt, und das zurecht."
 "Sag so was nicht. Ich weiß, was damals vorgefallen ist. Und auch die Jahre danach. Ich hatte ein Auge auf dich."
 "Das ist aber nett von dir", erwidere ich ironisch.
 Er gibt mir einen leichten Schubs. "Ich habe deinen Brief immer noch. Du bist mir nicht böse, dass ich nicht gekommen bin, oder?"
 Ich seufze. "Nein, natürlich nicht. Ich habe es schon damals gewusst. Im Nachhinein ist es so auch besser. Vielleicht wärst du jetzt tot, wenn du während Niks Rachefeldzug in New Orleans gewesen wärst."
 "Ich habe ihm nicht erlaubt, das Zimmer zu betreten."
 Ich weiß nicht, was ich darauf antworten soll, also sage ich nichts.
 Damon wagt es nicht, mich anzuschauen. Sein Blick ist stur auf seine Hände gerichtet. "Bist du noch wütend auf ihn?"
 "Wütend?" Ich hebe eine Augenbraue.  Er hätte auch fragen können, ob ich Angst vor ihm habe, aber dazu kennt er mich zu gut. Chloe Salvatore hatte vor niemandem Angst. Chloe Silver ist ein anderes Thema. "Wer sagt denn, dass ich jemals wütend auf ihn war?"
 Er schnaubt belustigt. "Ich war auf Katherine damals ziemlich wütend."
 Einige Sekunden, die sich jedoch anfühlen wie Minuten, vergehen mit Schweigen. Dann: "Wir haben Waffenstillstand geschlossen, Klaus und ich. Wir dachten, nach all den Jahren wäre er überfällig."
 "Nur dass es mich vor all den Jahren wesentlich mehr gekümmert hätte", entgegne ich.
 "Er hat sich nach dir erkundigt. Hättest du das erwartet?"
 Stimmt. Nik ist ja gerade in dieser Phase, in der er mir meine Fehler verzeiht -  oder sie zumindest nicht erwähnt.
 "Ich versuche, nichts mehr von Klaus zu erwarten. Er wird diese Erwartung entweder verfehlen oder übertreffen, je nachdem wie er gerade drauf ist."
 Damon steht auf und läuft durch das Zimmer. Ich merke, wie er mit sich kämpft. Schließlich scheint eine Seite gewonnen zu haben. "Darf ich dich etwas fragen?"
 "Nur zu, Damon." Mit verschränkten Armen wappne ich mich gegen die entweder total dämliche Frage oder schwerwiegend ernste.
 "Liebst du ihn?" Er wirft mir einen kurzen Blick zu. "Ich würde es gerne wissen. Ich würde gerne alles wissen. Wie es weitergeht. Was wir mit Stefan machen. Ob du wieder meine Schwester bist."
 "Oh Damon." Mein Herz wird schwer. Ich stehe auf und nehme ihn in den Arm. "Wie kannst du nur denken, dass ich mich nicht als deine Schwester betrachte?"
 "Du hast deinen wahren Namen abgelegt. Dich von den Vampiren abgewandt."
 "Vielleicht ..." Ich schlucke. "Vielleicht habe ich das. Aber das liegt nicht an dir, oder Stefan. Es lag an mir selbst. An meiner Vergangenheit, an meinen Erinnerungen. Ich habe schlimme Sachen getan, Damon. Ich habe meine Menschlichkeit ausgeschaltet, weil ich den Gedanken nicht ertragen konnte, von Niklaus gehasst zu werden. Es hat geschmerzt."
 "Viele Dinge schmerzen, Chloey." Seine Hand streicht beruhigend durch mein Haar, wie er es früher immer getan hat. Als wir noch menschlich und unschuldig waren. "Aber wenn Menschen nicht darüber hinweg kämen, würde die Welt überfüllt sein mit Schmerz und Selbstmitleid."
 "Das hast du schön gesagt."
 "Ich weiß." Damon grinst. "Liebst du ihn nun?" 
 Ich schlage ihm gegen die Schulter. "Wer weiß."

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