Kapitel 22: Kleines Missgeschick

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Ich hasse Flughäfen.
 In meinem Leben habe ich versucht, Flüge zu vermeiden. Doch wenn man von Amerika nach Europa kommen will, dann bleibt einem keine andere Wahl, außer man ist ein Freund des Wassers.
 Nicht Höhenangst ist es, was mich diesen Ort hassen lässt, sondern die vielen Menschen und das Gedränge, der ganze Stress.
 Schon als Vampir habe ich es vorgezogen, allein zu sein, und mich wenn dann auf hohe gesellschaftliche Zusammentreffen zu begeben, wie Niklaus es formulieren würde.
 Nik drängt sich durch die Massen von Menschen, die mit großen Augen auf die Anzeigetafel schauen und dabei gar nicht zu bemerken scheinen, dass ihre Koffer den halben Gang blockieren.
 Danach folgt Stefan, und gleich hinter ihm laufe ich. Meine Hand liegt auf seinem Rücken; ich weiß, wie schwer es für ihn ist, hier durchzulaufen und niemanden anzufallen. Bisher hat er sich gut geschlagen. Auf dem Weg von New Orleans nach New York hat er sich brav zurückgehalten und immer nur von den Blutbeuteln getrunken, die wir ihm gegeben haben. Einmal habe ich versucht, ihm das Blut eines Eichhörnchens anzudrehen, doch er muss es am Geruch erkannt haben. Klaus hat mir erklärt, dass Stefan Menschenblut trinken muss, um stark genug zu sein. Stark genug für das, was auf uns zukommt.
 Wir durchqueren die große Halle und Klaus führt uns zu einem Café. Er dreht sich zu uns um und sagt: "Wartet hier, ich bringe das Gepäck zur Abgabe. Chloe, pass auf deinen Bruder auf. " Mit diesen Worten ist er verschwunden, und ich habe keine Zeit mehr, Fragen zu stellen.
 Zwischen Stefan und mir breitet sich eine unangenehme Stille aus. Nicht, dass wir zuvor geredet haben oder so, aber Nik war da, und hat uns mit seiner Zielstrebigkeit abgelenkt, während er uns einen Weg durch die Massen gebahnt hat.
 Ich atme tief durch und weise mit einem Kopfnicken auf eine der Bänke, die am Fenster angebracht worden waren und einen Blick auf das Abheben und Landen der Flugzeuge gewähren.
 "Wollen wir uns dahin setzen? Wir können einen Kaffee bestellen."
 Stefan zuckt nur die Schultern, also übe ich einen sanften Druck auf seinen Arm aus und zwinge ihn somit, voranzugehen. Ich will meinen Bruder keine Sekunde aus den Augen, oder gar aus meiner Reichweite lassen. Dafür wirft er den Menschen um uns herum für meinen Geschmack zu gierige Blicke zu.
 Ich leite Stefan zu einem Stuhl und rutsche ihm gegenüber auf die Fensterbank. Als der Kellner kommt, bestelle ich zwei Latte Macchiato, und für mich ein Stück der sehr schokoladigen Schokoladentorte, auf die ich im Vorbeigehen einen kurzen Blick erhascht habe.
 Nachdem der Kellner wieder gegangen ist, drappiere ich meine Ellbogen auf der Glasplatte und stütze mein Kinn auf die gefalteten Hände. Intensiv schaue ich meinem kleinen Bruder in die Augen; er erwidert meinen Blick gleichgültig.
 Zu gerne würde ich glauben, dass vor mir der gleiche Junge sitzt, der mit mir aufgewachsen ist.  Dass hinter seiner grimmigen Miene immer noch das unbeschränkte Lachen lauert, dass er immer noch der ist, der mir früher leichtgläubig jede meiner Geschichten abbgekauft hat, mochten sie noch so abwegig sein. 
 Doch als ich ihm weiter ins Gesicht sehe, wird mir klar, dass es jemand anderes ist. Jemand, den ich nicht mehr kenne. Jemand, den die jahrelange Gefangenschaft geboren hat. Ich seufze und murmle so leise, dass nicht einmal ich es hören kann: "Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt."
 Stefan runzelt die Stirn, zeigt aber keine sonstigen Anzeichen von Neugier oder Verwirrung oder sogar Interesse.
 Ich bringe ein leichtes Lächeln zustande. "Ich habe mich auch verändert," sage ich mehr zu mir selbst als zu ihm. "Ich bin auch nicht mehr die, die ich einst war. Wie kann ich also erwarten, dass du noch immer der bist, der du einst warst?"
 Stefans Lippen öffnen sich leicht, vielleicht um etwas zu sagen, doch was immer es auch war, wird vom Kellner unterbrochen, der scheinbar wie aus dem Nichts aufgetaucht ist.
 "Zwei Tassen Latte Macchiato und ein Stück Schokoladentorte für die Dame", verkündet er und stellt die Sachen lächelnd vor uns ab.
 Mit einem Mal wird mein Herz schwer, und ich muss hefig schlucken. "Danke", bringe ich heraus, und meine Stimme klingt so erstickt, dass es sogar der Kellner bemerkt und mich fragend mustert.
 "Hat die Dame Herzschmerz?", erkundigt er sich besorgt und sein Blick wandert zwischen uns her. "Mit so einem wundervollen Begleiter?"
 Ich hatte meine Aufmerksamkeit dem Getränk vor mir widmen wollen, doch bei seinem letzten Satz bin ich hellhörig geworden. Ich hebe meinen Blick und mustere ihn. Er ist nicht jung, aber auch nicht alt, vielleicht Anfang Dreißig. Aus seinen Augen spricht aufrichtiges Mitgefühl.
 Ich zwinge mich, ihn anzulächeln. Ich weiß auch nicht, warum ich plötzlich diese seltsame Leere in mir verspüre. Ja, das ist es. Ich fühle mich leer. Ohne Liebe. Ohne geliebt zu werden.
 Aber warum soll ich den netten Kellner damit belasten? "Nein, Sie verstehen falsch. Das ist mein ..." Aus irgendeinem Grund gelingt es mir nicht, das Wort Bruder  über die Lippen zu bringen. Meine Kehle fühlt sich wie ausgetrocknet an. Schnell nehme ich einen Schluck vom Latte und verbrenne mir prompt die Zunge. Dieser Schmerz erweckt mich aus meiner Starre. "Ich glaube, das geht sie nichts an", sage ich und hebe eine Augenbraue. "Das ist privat."
 Der Kellner setzt zu einer Gegenrede an. "Sind Sie sich ganz sicher, dass mit Ihnen..."
 Weiter kommt er nicht. Stefan ist auf einmal hinter ihm und umfasst seinen Hals. Er scheint kaum Kraft aufzuwenden, doch augenblicklich weicht dem Kellner sämtliches Blut aus dem Gesicht und seine Augen treten hervor. "Bitte...", keucht er und schnappt verzweifelt nach Luft.
 Stefan senkt den Mund zu seinem Ohr und zischt: "Haben Sie nicht gehört, was meine Schwester gesagt hat? Sie will in Ruhe gelassen werden."
 Der Mann will etwas sagen, doch ihm fehlt die Luft zum Sprechen.
 Wie in Zeitlupe stehe ich auf und fühle mich genauso, wie er sich fühlen muss: Atemlos. Betäubt. Meine Lungen wollen nicht mehr funktionieren und ich greife haltsuchend nach der Stuhllehne. "Stefan", wispere ich. "Lass ihn los. Bitte."
 Mein Bruder scheint mich nicht zu hören; vielleicht ignoriert er mich absichtlich. Ich kann mich nicht bewegen, nur zusehen. Er senkt seinen Kopf noch weiter und verharrt eine Sekunde lang über dem Hals, dann gräbt er seine Zähne in die Haut des Kellners.
 Ich kann förmlich sehen, wie das Leben aus ihm weicht. Was sich anfühlt wie eine Ewigkeit, dauert in Wirklichkeit nur ein paar Sekunden.
 Mit einem dumpfen Klatschen lässt Stefan die Leiche los und schaut mich so schuldbewusst an wie ein Dreijähriger, der weiß, dass er Mist gebaut hat. Hinter der blutverschmierten Fassade erkenne ich plötzlich die Züge meines kleinen Bruders, und als er sich mit dem Handrücken über den Mund fährt, verstärkt sich dieser grausige Eindruck noch.
 Plötzlich spüre ich meinen Körper wieder, aber anstatt zu ihm hinzustürzen, taste ich mit der Hand nach der Serviette. Bevor ich sie ihm hinstrecke, balle ich meine Hand zu einer Faust; verknittert und wie eine Blume, die sich öffnet, nimmt Stefan sie von meiner Handfläche und entfernt das Blut aus seinem Gesicht.
 Während er das macht, schaue ich mich um. Unsere Bank befindet sich in einer kleinen Ecke hinter einer Trennwand, und einmal mehr bin ich froh um die Entscheidungen meines Unterbewusstseins.
 Ich hieve den Kellner auf die Bank und drappiere ihn so, dass man das Blut nicht sieht.
 Trotzdem bin ich nicht zufrieden. Seine Arme hänge zu schlaff herab; dass er schläft, würde nur ein Blinder abkaufen. Klaus wird das regeln müssen, wenn er endlich mal von der Gepäckaufnahme zurückkomen würde. Mit einer finsteren Miene drehe ich mich zu Stefan um, der sich kein Stück von der Stelle bewegt hat. "Bist du jetzt glücklich?" 

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