Kapitel 7: Die Schatulle

6K 240 2
                                    

Nach dem Mittagessen ist Nik nicht mehr der unterrichtende Dozent gewesen, sondern Mr. Shepperd, den Klaus so manipuliert hat, dass er dachte, er hätte am Vormittag zu einer wichtigen Veranstaltung gehen müssen. Man hatte Maggie ihre Enttäuschung angesehen, als sie erfahren hatte, dass sie jetzt keinen attraktiven Dozenten zum Flirten mehr hatte, und ich habe ihre Miene so genossen, dass ich sie nicht daran erinnerte, dass Klaus übermorgen ja wieder kommen würde.
Ich fühle mich schlecht, weil ich Livia nichts von Klaus und dem Rest erzählen kann. Ich habe sie vorhin schon wieder angelogen, als ich mich auf den Weg zu den Mikaelsons aufgemacht habe. 
Während ich das Tor zum Innenhof passiere, schaue ich auf mein Handy. Es ist zehn vor sechs. Ich steige die Stufen hinauf und klopfe gegen die Tür. Es fühlt sich komisch an, dieses Ritual, das ich früher fast jeden Tag durchgeführt habe, nun mit einer Jeans und dem Handy in der Hosentasche zu wiederholen. Entgegen meiner Erwartungen öffnet nicht Klaus die Tür, und auch nicht Elijah. Es ist das jüngste Mitglied der Mikaelsonfamilie: Ein braunhaariger Junge mit braunen Augen, der Elijah zum Verwechseln ähnlich sieht. Kol.
 Für einen kurzen Augenblick steht Verwirrung in sein Gesicht geschrieben, dann verzieht er spöttisch das Gesicht und meint: "Was für eine Überraschung. Unsere Chloeylein ist wieder da!" Er tritt einen Schritt zurück und macht eine einladende Geste. "Komm doch rein, ich habe schon angefangen unseren kleinen Engel zu vermissen!" Er mag zwar das Aussehen von seinem älteren Bruder haben, aber ganz gewiss nicht sein Verhalten. Das hat er von Klaus.
Ich dränge mich an Kol vorbei und sehe mich um. Der Strom scheint wieder hergestellt zu sein, denn die Kerzen von gestern Abend sind weggeräumt worden und ich kann auch ohne sie etwas sehen.
 Plötzlich steht Klaus vor mir. "Ah, siehe da! Ich habe dich gar nicht gehört!"
 Das ist natürlich gelogen, sein Vampirgehör erlaubt es ihm, dass er schon gewusst hatte, dass ich da bin, als ich die Treppen vor der Haustüre hinaufgestiegen bin.
 "Chloeylein scheint nicht mitbekommen zu haben, dass wir seit kurzem auch eine Klingel besitzen." Eine Sekunde lang ist Kol verschwunden und ein tiefer Glockenklang erfüllt das Haus. Kol grinst. "Hörst du das? Das ist unsere Klingel."
 Ich atme langsam aus. "Ich weiß, dass ich ein Mensch bin, Kol."
 "Ah gut, ich wollte nur mal sicher gehen. Schließlich erlebt man nicht alle Tage, dass ein Vampir sich von seiner Unsterblichkeit trennt."
 Ich drehe mich zu Klaus um. "Du hast es ihm erzählt?"
 Klaus zuckt mit den Schultern. "Er ist mein Bruder." 
"Ist der Rest der Familie auch in New Orleans? Oder verbringen Rebekah und Finn dieses Jahrhundert erdolcht  in ihren Särgen?", frage ich spöttisch.
 "Kol, lass uns bitte allein. Ich gehe mit Chloe nach oben."
 Kol zieht eine Augenbraue hoch. "Kannst du sie etwa schon wieder ansehen, ohne sie umzubringen? Ich würde ja lieber mitkommen, um sicherzugehen."
 "Kol."
 Abwehrend hebt der Angesprochenden die Hände und verlässt den Raum.
 Nik seufzt. "Komm mit, Chloe."
 Ich folge ihm die Treppen hoch in sein Malatelier. "Ist Elijah hier?"
 Klaus lacht. "Hast du Angst, mit mir allein zu sein, Liebes? Dazu hattest du doch auch gestern keinen Grund."
 "Du hast mich geküsst", stelle ich fest.
 "Das ist doch kein Grund, um Angst zu haben. Ich wollte dich nur testen."
 Ich schnaube. "Offensichtlich."  
 Nik grinst und hält mir die Tür offen. "Hattest du dir etwas anderes erhofft?"
 Ich sehe ihn mit kaltem Blick an. "Ganz sicher nicht. Ich risikiere mein Leben doch kein zweites Mal." 
 Die Tür fällt hinter ihm ins Schloss. "Du musst zugeben, daran warst du selbst schuld!"
 Ich verschränke die Arme vor der Brust. "Kannst du mir jetzt das Geheimfach öffnen oder nicht?" 
 Erhobenen Hauptes geht er zu dem Bild, das wir gemeinsam gemalt haben, hinter und hängt es von der Wand. Ich trete zu ihm, während er mit seinem Finger das Muster nachzeichnet. Mit einem Klicken springt es auf. "Sind die Wünsche der Dame nun erfüllt?"
 Ich greife an ihm vorbei in die Luke und ziehe eine Schatulle heraus. Nik folgt mir zu einem freien Tisch, wo ich sie abstelle und den Deckel anhebe. Ich halte die Luft an, als ich ihr Inneres wieder sehe. Die hundert Jahre sind spurlos an dem Inhalt vorrübergezogen, die ordentlich aufeinander gefalteten Briefe liegen unversehrt auf dem Boden. Verschiedene kleinere Kästchen und Krimskrams thronen darauf. 
Plötzlich schießt ein stechender Schmerz durch meinen Kopf und ich krümme mich zusammen und presse meine Fäuste gegen die Schläfen. Ein Bild taucht vor meinem inneren Auge auf. Eine schwarze Box, an die ich mich noch genau erinnern kann.
Ich spüre Klaus' Hände auf meinem Rücken, als das Bild und der Schmerz verschwinden und ich mich wieder auf das Hier und Jetzt konzentrieren kann. "Was war das?", fragt er.
 "Die Hexen", stöhne ich und stütze mich mit den Ellbogen auf der Tischoberfläche auf. Ich halte immer noch meinen Kopf, auch wenn ich der Schmerz nicht mehr da ist. Ich richte ich langsam auf und schaue die Schatulle an, die so viele Erinnerungen an Niks und mein vergangenes Leben enthält. "Ich weiß jetzt, was sie wollen", sage ich leise, schon fast flüsternd. Ich strecke meine Hand aus und taste nach dem kleinen Gegenstand, den die Hexen von mir wollen.
 Als er sieht, was ich in der Hand halte, werden Niks Augen groß. "Den Ring?"
 Mit zittrigen Händen öffne ich die schwarze Box und mir stockt der Atem. Die Box ist leer. Der mit rotem Samt gepolsterte Platz, auf dem der Ring gelegen hatte, ist leer. "Er ist nicht da", hauche ich. Dann fahre ich Klaus an, lauter: "Er ist nicht da! Was hast du mit ihm gemacht? Wo ist er?"
 Er presst wütend die Lippen zusammen und starrt nachdenklich auf die leeren Box. "Ich weiß es nicht. Ich habe die Schatulle nur ein einziges Mal geöffnet, und da habe ich ihn nicht rausgenommen."
 "Aber nur du kannst das Geheimfach öffnen! Als ich ihn das letzte Mal gesehen habe, lag er noch da, genau an dieser Stelle!"
 "Was sollte jemand mit diesem Ring wollen?", murmelt Klaus vor sich hin, er hört mir schon gar nicht mehr zu.
 "Was jemand mit diesem Ring wollen sollte!", sage ich hysterisch. " Also mir würde da eine Menge einfallen. Ich meine, was will man schon mit einem Ring, der den Träger immun gegen körperliche und geistige Angriffe macht!"
 Klaus schaut mich an. "Jetzt wirst du aber ironisch."
 "Ach ne."
 "Kol!", brüllt Klaus auf einmal laut und ich zucke zusammen.
 Eine Sekunde später lehnt sein Bruder im Türrahmen und grinste. "Du rufst und ich komme, Bruder."
 Er nimmt mir die Box aus der Hand und hält sie Kol hin. "Diese Box. Kommt sie dir bekannt vor?"
 Kol wirft einen kurzen Blick darauf. "Könnte sein, dass ich sie schon mal gesehn habe. Warum?"
 "Ihr Inhalt fehlt. Ein Ring. Er ist sehr wertvoll."
 "Was soll ich mit einem Ring? Mir reicht doch schon der hier", meint er und wackelt mit seinem Finger, an dem er seinen Tageslicht-Ring trägt.
 Klaus grinst seinen kleinen Bruder an. "Ach Kol. Du kennst mich doch inzwischen schon lange genug um zu wissen, dass ich Lügen durchschaue."
 Ich schaue ihn erstaunt an. Kol soll den Ring geklaut haben? Aber er kann doch gar nicht an ihn herangekommen sein, nur Klaus' und mein Vampirblut öffnet das Geheimfach.
 Kol grinst zurück. "Ach Niklaus. Und du kennst mich doch schon inzwischen lange genug um zu wissen, dass ich keine Gelegenheit ungenutzt lasse."
 Ich schaue zwischen den beiden sich angrinsenden Brüder hin und her. Klaus' Miene ist düster geworden, und sein Lächeln wirkt bedrohlich.

DesideriumWhere stories live. Discover now