Kapitel 11: Erinnerung an eine Freundin

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Wütend stampfe ich die Treppen zu unserem Hotelzimmer hoch. Erst Klaus und dann Finn. Warum will mich keiner von beiden nach Helena fahren? Es geht hier doch schließlich um meinen Bruder! Ich reiße die Tür unseres Zimmers auf und lasse den Rucksack auf den Boden fallen. Ich habe jedes Recht, auch mitzukommen!
 Livia schaut mich fragend an. Sie sitzt auf ihrem Bett und hält ihre Haarbürste in der Hand.
 "Ich war im Park", knurre ich. "Und hab gemalt."
 Erleichert, dass es nichts schlimmes ist, grinst sie und kämmt sich weiter die Haare. "So schlimm?"
 Gerne würde ich ihr alles erzählen. Von Klaus, von Montana und Damon, von Finn. Aber das kann ich nicht, ohne das Vampirzeugs auch zu erzählen. Denn ohne würde es nur so klingen: Hey Livia, ich habe unseren Dozenten im Park getroffen und der wollte mich nicht mit nach Helena nehmen. Weißt du, er tötet da nämlich eine Schmuckverkäuferin, weil ich einen Ring von ihr brauche, um meinen Bruder, den du noch nie gesehen hast und auch nie sehen wirst, zu befreien. Blöderweise wollte mich der Bruder unseres Dozenten auch nicht fahren. Und deswegen bin ich jetzt wütend.
 Das würde ein bisschen merkwürdig rüberkommen.
 Also ziehe ich nur das gemalte Bild aus der Tasche und zeige es ihr. "Wie findest dus?"
 Ich schaue amüsiert zu, wie Livias Augen das Gemälde Stück für Stück scannen, jedes Detail unter die Lupe nimmt. Dann sagt sie: "Das schaut echt gut aus. Wann bist du heute aufgestanden, um das so hinzukriegen?"
 "Ich war um halb sechs da."
 Meine Freundin verdreht die Augen und geht nebenan ins Bad. Sie kann mich nicht verstehen, wenn ich in aller Hergottsfrühe aufstehe und dann auch noch rausgehe. Das würde ich an ihrer Stelle aber auch nicht machen, Livia hat nach dem Aufwachen ohne Ausnahme ganz kleine Maulwurfaugen und einen sehr geringen Wortschatz.
 Als wir wieder von dem Seminar kommen, ist es drei. Alle hat es erstaunt, dass Klaus nicht da war, und ein paar (Maggie und ihre Mädchen) waren fürchterlich enttäuscht, obwohl Klaus es angekündigt hatte. Sie hatten wohl alle ein Kurzzeitgedächtnis. Ich weiß auch nicht, ob Klaus überhaupt vorhat, nochmal zu kommen. Er hatte, was er wollte. Mir einen Schrecken eingejagt. Er ist nicht der Typ, der ohne erkennbaren Selbstnutzen eine Klasse von Malstudenten unterrichtet.
 Den ganzen restlichen Tag liege ich auf dem Bett rum und lese. Livia wollte mit mir die Stadt weiter erkunden, aber ich erkenne darin keinen Nutzen. Ich kenne New Orleans, wenn auch nicht mehr so gut, aber immer noch gut genug, dass mir bei einer Stadtführung langweilig wird. Ich frage mich, ob ein paar meiner Freunde noch hier wohnen. Ich kannte ein paar Hexen, aber die kann ich nicht so richtig als Freunde bezeichnen. Sie haben mit mir gespielt, und ich habe mit ihnen gespielt. Ich habe insgesamt gesehen wirklich keine positive Beziehung zu Hexen. Erst die in New Orleans, dann der gruslige Zirkel, der meine Unsterblichkeit auf jemanden Todkranken übertragen hat, der irische Zirkel, der Damon in seiner Gewalt hat, und schließlich noch die Hexe in Montana mit meinem Ring. Gut, wer bliebe mir noch als Freunde? Außer Rebekah. Die ist ja in Montana. Wo ich nicht hinkomme.
 Ich hatte zu einer Menschenfrau eine ziemlich gute Beziehung aufgebaut. Aber sie ist sicher tot, zum Altern kommt auch noch hinzu, dass sie eine lebender Blutschrank für Nik war. Gut, wer fällt mir noch ein ... diverse andere Menschen, die ich aber getötet habe, also sind sie ebenfalls nicht mehr am Leben.
 Seufzend lege ich das Buch nieder, auf das ich die ganze Zeit gestarrt habe, ohne einen Sinn zu erkennen, und gehe zum Fenster. Himmel, es kann doch nicht sein, dass ich als einzige unsterbliche Freunde die Mikaelsons-Familie hatte.
 Halt. Da war noch jemand gewesen. Ich kann mich nicht mehr an ihr Gesicht erinnern. Lange, schwarze Haare. Ihr Name ... er begann mit Z. Zelda? Nein, das war ein Spiel. Z... Zu...Zo... Ja, jetzt weiß ich es wieder! Zoey. Ihr Name war Zoey. Ich bin mir sicher, denn er hat so ähnlich wie mein Name geklungen. Zoey, sie war die Freundin von Kol gewesen. Ganz, ganz kurz. Ich hatte ihr geholfen, mit ihm zusammen zu kommen. Ob sie noch hier lebte? Ich kenne weder ihr Gesicht, noch ihren Nachnamen. Vielleicht sieht sie auch ganz anders aus.
 Eine Stimme reißt mich aus meinen Gedanken und ich zucke zusammen. "Über was denkst du nach?"
 Ich wirble herum und blinzle Elijah ungläubig an. "Elijah? Woher weißt du, wo ich wohne?"
 "Ich habe mich informiert. Tut mir leid, dass ich nicht geklopft habe."
 Ich winke ab und drehe mich wieder zum Fenster. "Schon gut." Ich habe es als Vampir nicht anders gemacht. Ich habe mich nicht mit so etwas wie höflichem Klopfen aufgehalten. "Ich denke über Zoey nach."
 "Zoey? Ah, du meinst Miss Woodness."
 "Genau, Woodness. Es erstaunt mich, dass du dich gleich an sie erinnert hast."
 Der Vampir tritt neben mich ans Fenster und schaut wie ich den vorbeifahrenden Autos zu, der tummelnden Menschenmasse.
 "Mich hat Miss Woodness schon immer fasziniert. Ihre Art, Dinge immer ins bessere Licht zu rücken."
 Ich lächle. "Stimmt." Ich denke an die Zeit zurück, als ich Zoey am dringensten gebraucht hatte. Die Erinnerungen sind zu verschwommen, wie fast alles aus dieser Zeit. Mein Menschengehirn kann die vielen Sachen, die ich als Vampir erlebt habe, einfach nicht verarbeiten. Da war ein Bett, ein viel zu großes Bett wie mir vorkam. Zoey ist neben mir gekniet und hat meine Hand gehalten.
 "Sie war deine beste Freundin."
 Ich nicke. Ein Teil von mir schämt sich, dass sie meine beste Freundin war und ich mich nicht mal mehr an ihr Gesicht erinnern kann. Welche Augenfarbe hatte sie? Wie war ihr Lachen? Jetzt, wo ich mich wieder an sie erinnere, vermisse ich sie. Ich habe sie genau wie alles andere aus meinen Gedanken verdrängt, aber jetzt ist sie wieder da. "Beschreib sie mir", sage ich leise.
 "Nun, sie war eine großartige Frau. Sie konnte jeden zum Lachen bringen, selbst unsere Familie. Ihre gute Laune war ansteckend. Wenn du über irgendetwas traurig warst, oder es dir schlecht ging, schien sie mit ihren Worten zaubern zu können. Sie beschrieb dir eine Szene, und wenn du ihren Worten zugehört hast, dann ging es dir wieder besser."
 "Wie sah sie aus?"
 Er lächelte. "Schwarzes Haar fiel ihr über den Rücken, länger als es sich für Frauen aus dieser Zeit gehörte. Sie hatte hellgraue Augen, die du einfach nicht anlügen konntest."
 Ich seufze. So sehr ich es auch versuche und so sehr ich Elijahs Beschreibungen in meinen Kopf hineinzubrennen versuche, ich erinnere mich nicht an sie. Ich weiß, dass seine Worte wahr sind. Aber ich bekomme kein Bild, nur ein Gefühl. "Lebt sie noch hier?", frage ich.
 "Ich weiß es nicht. Ich glaube nicht. Wir haben sie nicht mehr gesehen, seit du ..." Er stockt. "Ein paar Tage blieb sie noch bei uns, aber dann war sie eines Morgens verschwunden."
 Ich zeichne die Linien des Fensterrahmens nach. Verschwunden. Das kann vieles bedeuten.
 "Ich möchte sie sehen."
 Ich spüre Elijahs Blick auf mir. "Ich dachte, du willst nach dieser Sache nichts mehr mit uns Vampiren zu tun haben."
 "Das heißt nicht, dass ich meine beste Freundin nicht vermisse. Ich kann mich erst gerade wieder an sie erinnern, aber ich erinnere mich. Und ich vermisse sie."
 Er wendet sich vom Fenster ab und lässt seinen Blick durch den Raum schweifen. Ich beobachte ihn dabei.
 "Warum bist du hier, Elijah?", frage ich.
 Er schaut mich aus seinen dunklen Augen an. "Ich dachte, dich interessiert es vielleicht, dass ich eine Nachricht von meiner Schwester bekommen habe", antwortet er. "Rebekah."

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