Kapitel 31: Der Zirkel der Lichtgöttin

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Der Steinkreis ist genauso, wie ich ihn in Erinnerung habe.
 Nicht, dass ich mich sehr an diese Nacht erinnern würde. Zu groß war meine Angst und Sorge um Damon, der leblos an dem Holzpfahl hing. Zu groß mein Hass und meine Abscheu gegenüber den Hexen, die mich zwangen, meine Vergangenheit wiederzubeleben und als Druckmittel meinen geliebten Bruder einsetzten. Die Gefühle haben mir eine Art Tunnelblick ermöglicht.
Heute Nacht sehe ich den Hügel so, wie ich jeden anderen Hügel auch sehen würde: Gras, vereinzelte Bäume, einige Büsche. In der Mitte ein Ring aus Steinen, kleine bis gigantische Quader, die bedrohlich in den Himmel ragen. Ich kann nur vermuten, wie viele geheime Öffnungen zu dem Tunnelsystem sich als graue Felsen tarnen. Bei der Anzahl der Steine und der Weite der Landschaft müssen sich die unterirdischen Gänge kilometerweit erstrecken. Hoffentlich verschwendet Nik keine Zeit, indem er sich darin verirrt.
 Am Fuß des Hanges bleibe ich stehen und schaue Stefan ernst an. "Überlass mir das Reden, klar? Wenn sie dich fragen, warum du hier bist, antworte nicht. Sie können die Lügen von deinen Lippen ablesen. Ich muss verdammt aufpassen, was ich sage - so sehr ich dich auch liebe, ich traue dir diese Konzentration und Abwägung der Worte in deinem Zustand nicht zu."
 Stefan nickt. Seine dunklen Augen lassen keine Gefühle zu. Ich atme tief durch und versuche, den Sturm der Aufregung in mir zum Schweigen zu bringen. Bei dem geringsten Fehler schicke ich Damon und Nik in ihr sicheres Verderben.
 Ich straffe die Schultern und setzte meinen Weg fort. Stefan läuft neben mir. Irgendwie muss ich die Kontrolle über meine Hand verloren haben, denn plötzlich halte ich die seine fest umklammert. Er symbolisiert mir mit einem leichten Gegendruck, dass alles gut werden wird. Oder vielleicht war das nur ein Zucken seiner Finger. Kaum passieren wir die ersten Steine, flammen um uns kleine Bodenfeuer auf und erhellen den Weg. Ich lasse Stefans Hand los und versuche, selbstbewusst zu erscheinen. Die dutzend Schritte bis zur Mitte des Steinkreises ziehen sich in die Länge, werden zu einer Ewigkeit. Um uns herum raschelt es, als die Hexen nach und nach zusammenkommen. Ich umklammere den Ring in meiner Tasche ganz fest. Alles oder nichts.
 "Chloe. Chloe Salvatore. Silver. Salvatore. Chloe." Die Stimmen scheinen zu keinem Körper zu gehören, sind weder laut noch leise, weder zart noch barsch, weder jung noch alt. Gleichzeitig hat es den Anschein, als würden hundert Greise meinen Namen testen, Silbe für Silbe in den Mund nehmen. Ein Chor von Kindern. Zornige Wölfe, ein gefährliches Knurren. Der Wind, der durch die Blätter weht. "Chloe. Sal - va - tore. Silver. Chloe Silver."
 "Chloe Silver." Eine Frau ganz in Weiß tritt hinter einem Stein hervor. Irgendwann zwischen vorhin und jetzt ist der Mond hervorgekommen und taucht ihre Haare in einen hellen Glanz. Ein wehendes Gewand, das aus Sommerwolken zu bestehen scheint, umschlingt ihren Körper. Selbst ihre Pupillen sind weiß.
 Ich kenne sie. Sie ist die Anführerin des Zirkels. Lumia, nennen ihre Schwestern und Brüder sie.  
 Sie streckt die Arme aus, als wolle sie mich umarmen. "Du bist vier Tage zu früh." Ein Moment verstreicht, bevor sie fortfährt. Sie lässt ihre Arme sinken. "Umso besser. Das verschafft uns mehr Zeit. Hast du das, um was wir dich gebeten haben?"
 Aus dem Augenwinkel bemerke ich, dass nun langsam auch die übrigen Hexen in den Schein der Feuer treten. Es sind Frauen und Männer, die ihr Leben der Lichtgöttin verschrieben haben. Auch Kinder sind dabei, ebenfalls ganz in Weiß gekleidet. Die meisten Hexen mögen harmlos erscheinen, doch der Schein von Magie trügt immer.
 Die Legende, die diese Menschen zusammenhält, beschreibt einen Tag in Lumias Jugend. Als unerfahrene Hexe sollte sie auf einer Wiese Veilchen pflücken, um einen Trank zu brauen. Plötzlich stieg die Sonne vom Firmament herab und blendete sie. Für einen kurzen Moment jedoch konnte sie eine Frauengestalt erkennen, die von innen heraus zu leuchten schien. Sie eröffnete Lumia ihr Wissen und wieß sie an, einen Zirkel zu ihrer Verehrung zu gründen, auf dass sie die älteste und mächtigste Magie der Zeit anwenden konnten. Lumia stieg zu einer großen Anführerin herauf, und angeblich hatte sich ein Teil der Lichtgöttin in ihr manifestiert, doch der Preis dafür war ewiges Nichts. Der Preis für Lumias Macht war ihr Augenlicht.
 Trotzdem werde ich nicht übermütig. Diesen Fehler habe ich letztes Mal gemacht. Lumia kann auf irgendeine Art und Weise sehen, die vielleicht noch besser ist als jegliche Sehkraft eines Vampirs. Für meine Aufmümpfigkeit hat sie mir die Eisenkrautkette genommen.
 Das Silber des Ringes schneidet in meine Haut. Alles oder nichts.
 Ich nicke.
 Lumia lächelt, was die Dunkelheit der Nacht ein Stück zurückdrängt. "Das freut mich. Nichts anderes habe ich von dir erwartet. Du würdest nie das Leben deiner Brüder aufs Spiel setzen." Ihre leeren Pupillen blicken Stefan an. "Du bist doch der andere Bruder, oder nicht?"
 "Ja", sage ich schnell. "Das ist er." Die Hexe dreht wieder ihren Kopf. Ihr Lächeln löst ein warmes Gefühl in mir aus. "Hast du das Sprechen verlernt? Vor zehn Tagen warst du wesentlich redseliger."
 "Mag sein", antworte ich. Lieber zu wenige Worte als eines zu viel. "Geht es Damon gut?"
 "Allerdings. Sobald du mir den Ring gegeben hast, bekommst du ihn wieder."
 "Und meine Kette?"
 "Die ebenfalls." Sie streckt die Hand aus.
 Ich zögere. Zu wenig Zeit ist vergangen. "Wie kann ich mir sicher sein, dass du deine Versprechen einhälst?"
 "Wenn du deine Versprechen einhälst, halte ich auch meine ein."
 "Schon wieder ein Versprechen."  "Du bist sehr misstrauisch. Das ist nie ein Fehler." Lumia macht ein Zeichen. Ein Mädchen kommt aus der Dunkelheit und stellt sich neben sie. Vielleicht sechs Jahre, ist sie in eine weiße Tunika gehüllt. Ihr braunes Haar ist zu einem Zopf geflochten, in dem sich winzige Perlen verstecken. So jung, kann sie sich nicht von selbst für dieses Leben entschieden haben. Sie wurde hier geboren. Ist hier aufgewachsen. Kennt es nicht anders. Ich empfinde Mitleid für sie.
 "Das ist Solia, eine meiner besten Schülerinnen. Sag, meine Kleine, habe ich jemals ein Versprechen nicht eingelöst?"
 Das Kind schüttelt den Kopf. Sie beäugt uns neugierig, als wären Stefan und ich fremde Wesen von einem anderen Planeten.
 "Solia hat die Aufgabe erhalten, jeden Tag um Mitternacht, wenn die Zeit für einen Augenblick still steht, nach deinem Bruder zu sehen. Wie geht es ihm, Solia?"
 Das Mädchen hebt das Kinn. "Er fügt sich jeden Tag selbst Wunden zu. Ich glaube, er will sich umbringen. Aber er nimmt das Blut, das ich ihm gebe." Solia streckt ihr Handgelenk aus. Auf ihrer zarten Haut sind Bissspuren zu erkennen. Ich spüre, wie Stefan sich verkrampft.
 "Du hörst, wir fügen ihm kein Unrecht zu. Er trägt selbst die Schuld an seinem Leid. Gibst du uns nun das, was wir verlangten? Oder ist dein Vorhaben doch gescheitert?"
 Ich schüttle den Kopf. "Ich habe den Ring gefunden."
 "Gut." Diesmal wartet sie, bis ich die Hand aus der Tasche genommen habe, bevor sie den Arm ausstreckt. Ein letztes Mal drehe ich ihn zwischen meinen Fingern und bewundere die Verzierungen. Ein Meisterwerk. Alles oder nichts.
 Ich gehe zu ihr und platziere den Ring auf ihrer Handfläche, nicht ohne ein Stoßgebet zu wem auch immer zu schicken. Alles oder nichts.
 Nachdem ich wieder zu Stefan zurückgekehrt bin, beobachten wir angespannt, wie Lumia den Gegenstand betrachtet. Solia versucht unaufällig, einen Blick darauf zu erhaschen, doch ihre Lehrerin hält den Ring so, dass nur sie ihn sehen kann.
 Die Sekunden werden in die Länge gezogen. Ich will schon irgendetwas machen - wegrennen, schreien, mich hinter Stefan stellen - als sie den Kopf hebt und mir zulächelt. "Ich sehe, du hast deinen Auftrag gewissenhaft ausgeführt. Solia, bitte bring ihren Bruder und die Kette hoch."
 Ich kann mir das Triumphgefühl nicht verkneifen, während Solia sich abwendet und den Stein zu ihrer linken abtastet.
 Tja, Kol. Falsch gedacht.

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