- Kapitel 65 -

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Lukes Sicht

Bereits der zweite Unterrichtsblock zog sich, wie erwartet, wie Kaugummi in die Länge.
Umso erleichterter war ich, als es endlich wieder zur Pause klingelte und unseren Köpfen eine weitere fünfzehn Minuten Ruhepause gegönnt wurde.

Während ich versuchte neue Energie für die noch kommenden zwei Unterrichtsblöcke zu tanken, wurde ich von meiner linken Seite angestupst. Der Seite, auf der Marius üblicherweise saß.

»Hm?«, brummte ich, um herauszufinden, was er von mir wollte.
»Bist du Samstag wieder auf der Wache?«, stellte er mir seine Frage. Zustimmend nickte ich.
»Dann werden wir uns ja sehen. Mein Papa hat nämlich Tagschicht«.
Dass sein Papa am kommenden Samstag arbeiten musste, hatte er bereits in der ersten Pause erwähnt.
Da ich nicht wusste, was ich darauf sagen sollte, nickte ich wieder nur und hielt meine Augen geschlossen.

»Hab ich schon erzählt, dass meine Tante zu Besuch kommt?«
Wieder nickte ich.
»Auch, dass sie mit auf die Wache kommt am Samstag?«
Da das nicht der Fall war, schüttelte ich verneinend den Kopf.
»Nun … Da ist noch was, was du vielleicht wissen solltest …«, kam es zögerlich von ihm, was mich skeptisch werden ließ, weshalb ich meine Augen öffnete und zu ihm schaute.
Leicht nervös spielte er an seinem Armband herum.
»Aylin, also meine Tante ist angehende Kinderärztin. Und da ich weiß, dass du Schwierigkeiten mit so Leuten aus dem medizinischen Bereich hast, hab ich gedacht, dass ich dich vorwarnen sollte«, brachte er ein wenig Licht ins Dunkle.
Leicht schmunzelte ich. »Danke für die Vorwarnung. Aber wieso bist du deswegen so nervös?«, wollte ich wissen. Der jüngere von uns beiden richtete seinen Blick nach unten auf den Boden. »Ich hab Angst davor, dass du wieder in Panik verfällst …«
»Hey. Mach dir darum bitte nicht zu viele Gedanken. Damien ist da und wenn was passieren sollte, kann er eingreifen«, versuchte ich ihm diese Angst zu nehmen. Schließlich lag es nicht in seiner Verantwortung. Trotzdem war es nett von ihm, mich bezüglich seiner Tante vorzuwarnen.

»Aylin ist wirklich nett. Leider kann ich sie nicht oft sehen, weil sie in Berlin lebt und dort ihre Ausbildung zur Kinderärztin macht.« Sein Blick verharrte auf dem Armband.
»Du hast sie gerne, nicht wahr?«, fragte ich und er nickte. »Bis vor drei Jahren lebte sie noch hier und ich konnte sie jeden Tag sehen, aber jetzt ist sie nur ein paar Mal im Jahr zu Besuch.« Der leicht traurige Ton in seiner Stimme unterstrich mir nochmal, was für ein wichtiger Mensch seine Tante für ihn ist.

Für einen Moment musste ich an Jules denken. Genau wie Aylin ist er Arzt. Akira und ich haben zu Jules keine tiefe Bindung. Das schien bei Marius und seiner Tante anders zu sein.

»Weißt du, der Grund, wieso sie sich für den Facharzt Kinderärztin entschieden hat, bin ich. Sie war dabei, als mein Herzfehler festgestellt wurde, sie war dabei, als ich operiert werden musste und hat sogar vor ihrem Medizinstudium ihren Rettungssanitäter gemacht, um mir im Notfall helfen zu können«, erzählte er mir mehr über seine Tante und ich muss zugeben, ich war beeindruckt. Sie schien von seinen Erzählungen her ein guter, fürsorglicher Mensch zu sein.

»Sie ist wie eine Ersatzmama. Meine richtige Mama ist ja gegangen, als sie erfahren hat, dass ich herzkrank bin …«

Das zu hören versetzte mir einen heftigen Stich ins Herz. Außerdem kam mir der momentane Konflikt zwischen Akira und Mom wieder in den Sinn, der nur wegen meiner bescheuerten Angst existierte.

Den Drang ihn in den Arm zu nehmen ließ sich nicht unterdrücken und ich legte beide Arme um seinen Körper.

Nach dieser Offenbarung hatte es mir die Sprache verschlagen. Stattdessen war ich einfach für ihn da. Als Kumpel.

»Danke«, nuschelte er nach ein paar Minuten des Schweigens und löste sich aus meiner Umarmung.
»Kein Ding«, meinte ich darauf.

Wie so oft verhinderte die Schulklingel, dass wir weiter reden konnten.

»Wir sehen uns später«, sagte ich zur vorübergehenden Verabschiedung, stand auf und setzte meinen Schulranzen auf. Der Rest der Clique tat es mir gleich.

»Bis später«, erwiderte Marius meine Verabschiedung und wir gingen zu unseren jeweiligen Klassenräumen. Es stand nun Biologie auf dem Plan.

Dieser Block und der darauffolgende, vergingen schleichend und ich war froh, als sich die Uhrzeit langsam aber stetig Richtung Viertel vor drei fort bewegte. Als das erlösende Klingeln ertönte, atmete ich erleichtert aus und es ging zum Bus.

Zuhause gab es Mittagessen, wonach es wie üblich an die Hausaufgaben ging.

Wie so oft waren dabei meine Gedanken überall, nur nicht bei den Aufgaben.

»Ich bin ja Mal gespannt, wie Marius Tante so drauf ist … Hoffentlich kann ich mich zusammenreißen …«

Ich schüttelte den Kopf, versuchte meine Aufmerksamkeit wieder auf die Hausaufgabe vor mir zu richten.

Länger als eigentlich nötig verbrachte ich mit diesem Teil meiner Nachmittagsroutine. Als das geschafft war, ließ ich mich erledigt in mein Bett fallen und konnte Schule für diesen Tag von meiner innerlichen To do Liste streichen.

Den Rest des Tages, verbrachte ich, wie so oft, mit faulenzen.

Die Tage bis Samstag zogen ins Land.

An diesem Morgen war nicht nur ich bereits um acht wach, auch meine Zwillingsschwester saß mit am Frühstückstisch und schien auf heißen Kohlen zu sitzen.
Den Grund dafür kannte ich bereits seit Donnerstag.
Sie durfte an diesem Samstag das erste Mal seit unserem Umzug wieder an einem Training einer Kampfsportschule teilnehmen.

»Iss langsam. Es bringt dir nichts später mit Bauchschmerzen dort aufzutauchen«, ermahnte Mom meine extrovertiertere Hälfte.

Um Punkt zehn vor neun stiegen wir ins Auto. Plan war es zuerst mich am WKM abzuliefern und danach ging es für Akira zur Kampfsportschule.

Auf dem Parkplatz der Klinik angekommen, zog Akira mich noch einmal zu sich.

»Du schaffst das. Bis später«, sagte sie noch zu mir, was ich mit einem »Pass auf dich auf«, erwiderte. »Versprochen!«, kam es darauf von ihr zurück, dann stieg ich aus.

»Melde dich, wenn ich dich abholen soll«, meinte Mom. »Mache ich«, bestätigte ich und machte mich auf den Weg zur Rettungswache.

Wie immer lauerte die Angst im Hintergrund, ließ mich die innere Unruhe spüren.

»Mal schauen, was mich heute erwartet …«, ging es mir durch den Kopf und ich stellte mich an den Treffpunkt von Damien und mir. Die Eingangstür.

WKM - Angst vor ihnen Where stories live. Discover now