1. Erwachen

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Es gibt drei Fragen, die du dir stellen musst, wenn du dein Gedächtnis verloren hast.

Die erste Frage lautet: Wer bin ich?

Das ist im Normalfall die leichteste Frage. Die Beantwortung gibt dir ein stückweit das Gefühl von Sicherheit zurück. Schon bald wirst du feststellen, dass der Filmriss von gestern Abend daher rührt, dass du zu tief ins Glas geschaut hast. Sprich mir nach: »Mein Name ist —, ich wohne in der —straße und bin — Jahre alt«.

Als ich erwachte, wusste ich blöderweise auf diese Frage keine Antwort. Mir fiel weder mein Name ein, geschweige denn wo ich wohne, oder was ich in meinem bisherigen Leben so gemacht habe. Ich hatte das Gefühl, gerade erst geboren worden zu sein. Da war nichts in meinem Kopf. Gut, vielleicht nicht überhaupt nichts, aber weder meine Panik noch der Satz des Pythagoras, der mir aus irgendeinem Grund gerade einfiel, halfen mir in meiner gegenwärtigen Situation weiter.

Die zweite Frage lautet: Wo bin ich?

Davon hängt ab, wie peinlich es für dich wird. Wenn du in deinem Bett liegst, dann kann ich dich beruhigen – die acht Stunden, die du verloren hast, sind kein Gedächtnisverlust. Das nennt man »Schlaf«. Wenn du im Bett von jemand anderem liegst, dann würde ich mir jetzt allerdings Sorgen machen. Und so schnell wie möglich verschwinden. Darüber, wie du hierher gekommen bist, kannst du dir später noch Gedanken machen.

Als ich erwachte, konnte ich auch die Frage nach dem »Wo« nicht beantworten. Ich lag wie ein Maikäfer auf dem Rücken, die Arme und Beine angezogen, und konnte mich kaum bewegen. Mit meinen Fingerspitzen ertastete ich Wände, die meinen Körper umgaben. Sie schienen aus Metall zu sein; genau konnte ich es nicht sagen, denn es war stockfinster. Ich wackelte ein wenig hin und her, doch es half nichts: ich saß fest.

»Hilfe! Hilfe!« rief ich, und es klang, als ob ich in einen Pappkarton gehustet hätte. Ich schrie mir die Seele aus dem Leib, aber niemand kam. Mein heißer Atem prallte dabei von der Decke über mir ab und bließ mir ins Gesicht. Hier war es überhaupt ziemlich warm. Hatten wir gerade Sommer? Nicht mal das wusste ich. Der Gedanke an die warme Jahreszeit ließ Bilder in mir aufblitzen von Sandstränden, Eis am Stiel und Freizeitbädern. Mit dem beunruhigenden Detail, dass ich sie mir vollkommen menschenleer vorstellte. Keine Eltern oder Freunde. Wäre auch zu einfach gewesen.

Jetzt wurde es aber wirklich unangenehm heiß in meiner Kiste. Zu allem Überfluss kam noch ein beißender Geruch hinzu. Was verursachte den doch gleich...? Ich kniff die Augen fest zusammen, und tatsächlich gelang es mir unter großer geistiger Anstrengung, diese Verbindung tief in meinen Gehirnwindungen wieder zu aktivieren. Was für ein großartiges Gefühl, sich an etwas zu erinnern! Als ob man eine revolutionäre Erfindung gemacht hätte. Vor meinem geistigen Auge sah ich mich bereits auf einem Podest stehen, das Publikum vor mir applaudierte, und freudestrahlend nahm ich den silbernen Pokal entgegen, für das »sichere Erschnüffeln von brennendem Gummi–«

Oh.

»Lasst mich hier raus!« brüllte ich nochmal gegen die Wand. Ich war zu jung, um eingeäschert zu werden! Jedenfalls glaubte ich, ziemlich jung zu sein. Also, 60 war ich bestimmt nicht.

Leider reagierte noch immer niemand auf meine Rufe. Mit aller Kraft warf ich mich wie ein rollendes Fass gegen die Seitenwände, aber mein Sarg bewegte sich keinen Zentimeter von der Stelle. Dann versuchte ich etwas anderes: Ich zog meine Beine ruckartig an und stieß so mit den Knien gegen den Deckel (die Füße konnte ich nicht benutzen, dafür reichte der Platz nicht aus). Es tat höllisch weh, aber es war meine einzige Chance, hier rauszukommen. Ich schien irgendetwas zu bewirken, denn es rumpelte sehr laut, und für einen Augenblick fiel Licht in die Kiste, das die schwarzen Innenwände schimmern ließ. »Komm schon!« Ich hämmerte meine geschundenen Kniescheiben ein letztes Mal gegen die Decke, und sie hob sich tatsächlich, die Seitenwände mit ihr gleich dazu. Endlich war ich frei! Meine Beine fühlten sich an, als ob sich ein Elefant draufgesetzt hätte, aber das Glücksgefühl des Erfolgs überschattete die Schmerzen.

Ich bin KWhere stories live. Discover now