14. Sonnensturm

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Timo hob die Arme leicht zur Begrüßung, als ich am nächsten Tag zum verabredeten Treffpunkt spazierte. Zu einem Winken reichte es nicht, denn er steckte in einer dicken Thermojacke und klobigen Handschuhen, die ihn in seiner Bewegung einschränkten. Um seinen Hals schlang sich ein schwerer Schal, und auf seinem Kopf hatte es sich eine Wollmütze gemütlich gemacht, deren Anblick bereits genügte, um bei mir einen Juckreiz in den Haaren auszulösen. Es war zweifelsohne ein kalter Tag, aber nicht derart, dass man wie ein Astronaut herumlaufen musste. Yella balancierte auf dem Rand des Geisterbrunnens, der zu dieser Jahreszeit abgestellt war. Im Sommer versetzte er mit seinen filigranen Wasserspielen kleine wie große Kinder in Erstaunen; jetzt aber gingen die Menschen vorbei, ohne ihm Beachtung zu schenken.

»Wo ist denn deine Brille?«, fragte Timo.

»Ach, die... brauche ich nur zum Lesen«, antwortete ich. Die AR-Brille hatte ich vorsorglich zu Hause gelassen; andernfalls hätte ich Evelyn und Jerry erklären müssen, wie ich an Narcisas Gestalt gelangt war.

»Wollen wir dann? Mir wird langsam kalt«, sagte Yella, und zeigte in Richtung eines Restaurants mit dem Namen ›Eismeer‹.

»Hab' ich's dir doch gesagt«, murmelte Timo, während er versuchte, mit uns Schritt zu halten.

Ich wunderte mich, dass ich noch nicht früher vom Eismeer gehört hatte (oder wenn doch, hatte es zumindest den Gedächtnisverlust nicht überstanden). Es handelte sich dabei um ein Drehrestaurant mit drei Ebenen an der Spitze eines der Verrückten-Fünf-Hochhäuser. Jeder Tisch hatte seine eigene kleine sechseckige Nische aus Glas an der Außenwand. Man saß mit dem Rücken zum Fenster auf einer Holzbank, in die von kunstfertiger Hand Fische, Delphine und Meermenschen eingeschnitzt worden waren. Auch das Dekor im Innenraum folgte dem maritimen Thema: Netze hingen von der Decke, 3D-Dioramen zeigten Eisbrecher, die sich durch die zugefrorene See fraßen, und in einer Ecke entdeckte ich sogar einen massiven rostigen Anker. In der Mitte, durch eine ringförmige Theke getrennt, befand sich anscheinend die Küche; wobei ich nirgends einen Herd oder ähnliches erblicken konnte. Fast der ganze Platz wurde von riesigen, grünen Kühlschränken eingenommen, aus denen die Kellner von Zeit zu Zeit Eisblöcke nahmen und zu den Waben mit den Tischen brachten. Das Restaurant war jetzt zur Nachmittagszeit gut besucht. Yella suchte eine freie Nische, von der aus man Ausblick auf die Küste und das Meer hatte, wo sich uns ein beeindruckendes Schauspiel bot: Heute war Zwiemond, und dementsprechend heftig schlugen die kilometerhohen Wellen an die Flutdämme.

Das Restaurant drehte sich angenehm langsam. Ich schätzte anhand des Durchmessers und der Drehgeschwindigkeit, dass eine volle Umrundung ungefähr 90 Minuten dauern würde. Erst darauf fragte ich mich, warum zum Teufel ich das überhaupt so schnell berechnen konnte.

Timo war gerade fertig damit, sich aus den Kleiderschichten zu befreien und die Locken gerade zu strubbeln, die unter der Mütze arg gelitten hatten, als uns ein junger Kellner die Speisekarten brachte. Ich war ein wenig enttäuscht, ließ mir aber nichts anmerken. Yella hatte eine Überraschung versprochen, aber das Angebot las sich recht gewöhnlich: ›Steak vom Schwefelbüffel an Elfwurz‹, › Brontosaurusfilet mit Kidneybohnenjus‹, ›Gedicht aus Riesenschwammerlherzen und Lotosknollen‹. Nichts, was man nicht auch an der Imbissbude um die Ecke kaufen konnte – minus der feinen Bezeichnungen. Eine Eiskarte suchte ich vergebens; man erwartete wohl, dass man zuerst ein warmes Gericht zu sich nahm.

»Danke übrigens, Narcisa«, sagte Timo, als wir unsere Bestellung aufgegeben hatten. »Du bist die erste, die ich für die Kinder werben konnte.«

Also lag ich mit meiner Vermutung richtig. »Keine Ursache«, sagte ich. Yella beugte sich zu mir herüber, wobei sie die Ellenbogen auf den Tisch stützte. »Wie kommt es eigentlich, dass du zugesagt hast? Du scheinst mir nicht eine von der leichtgläubigen Sorte zu sein. – Nicht böse gemeint, Timo.« – »Wie?«, sagte Timo, der die Spitze gegen seine geliebte Kirche nicht mitbekommen hatte.

Ich bin KWhere stories live. Discover now