13. Das Schiff des Theseus

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Narcisa stolperte erschrocken rückwärts und fiel rücklings auf meine Pritsche. Dabei rutschte ihr das Handy aus der Hand, dessen Blitzlicht sie als Taschenlampe verwendet hatte. Es strahlte ihr nun direkt ins Gesicht, doch das war gerade ihre geringste Sorge. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie mich, ihr Ebenbild, an.

»Wer... wer bist du?« presste sie zwischen den Zähnen hervor. Obwohl mein Gehirn auf Hochtouren ratterte und damit beschäftigt war, eine glaubhafte Ausrede zur produzieren, fiel mir in diesem Moment erneut auf, wie sehr Narcisas Gesicht dem einer Füchsin glich. Zwar hatte ich täglich zahlreiche Gelegenheiten, ihr Gesicht im Spiegel zu bewundern – doch gelang es mir nie, diesen eigentümlichen Ausdruck nachzuahmen: Die Augenbrauen über der Nase zusammengeschoben, die Augen nicht vollständig geöffnet, und die Mundwinkel leicht angehoben. Der Pelzkragen ihres Wintermantels, der ihr nun locker um die Schultern hing, verstärkte diesen Eindruck nur noch. Ja wirklich, sie bebte sogar wie ein verängstigtes Füchslein.

Zögerlich ging ich mit erhobenen Händen auf sie zu, in der Absicht, sie zu beruhigen. Sofort stieß sie einen spitzen Schrei aus und rief um Hilfe. »Hier hört dich keiner«, sagte ich so ruhig wie möglich. »Sei bitte still, ich tu dir nichts!«

Kaum hatten diese Worte meine Lippen verlassen, wurde mir klar, dass sie das genaue Gegenteil bewirkten. Narcisa wich panisch noch weiter vor mir zurück, bis sie schließlich von der Holzwand der Hütte aufgehalten wurde. »Wer bist du?« wiederholte sie flüsternd ihre Frage, und setzte dann hinzu: »Und was hat Evelyn damit zu tun? Warum kommt sie ständig hierher?«

Daher wehte also der Wind. Sie hatte ihre Mitbewohnerin heimlich zu dieser Hütte verfolgt. Um sie nicht weiter einzuschüchtern zog ich einen Stuhl heran und setzte mich mit einigem Abstand an den Tisch. Ihr Blick haftete dabei an meinen Händen, als befürchtete sie, ich würde gleich nach dem Brotmesser greifen. Ich war in einer furchtbaren Zwickmühle. Sollte ich die Wahrheit sagen, oder ihr irgendeine Geschichte auftischen, die sie sowieso nicht glauben würde?

»Ich bin deine Zwillingsschwester«, sprudelte es aus mir heraus. »Evelyn wollte es dir nicht gleich sagen, wegen dem möglichen Schock, verstehst du? Wir beide wurden bei der Geburt getrennt, und ich... äh... bin auf einer Minenstation aufgewachsen, deswegen sind wir uns nie begegnet...«

Narcisas Gesichtszüge schienen sich zu entspannen. »Oh, wenn ich doch nur gewusst hätte...«, begann sie mit deutlich festerer Stimme. Erleichtert lehnte ich mich zurück. »...was für ein absoluter Dummkopf du bist, dann hätte ich nicht solchen Schiss gehabt! Für wie dumm hältst du mich eigentlich? Hast du das aus einer Seifenoper?«

Na großartig. Hatte ich es nicht vorhergesagt? Ich lächelte sie gequält an. »Darf ich es nochmal versuchen? Mit der Wahrheit?«

»Die Wahrheit ist doch offensichtlich«, sagte sie und verschränkte die Arme. »Du bist ein verdammter Klon. Das ist total illegal, und das weiß Evelyn! Oh, ich werde sie vor Gericht bringen, und dann muss sie mir bis zu ihrem Lebensende Entschädigung zahlen!«

»Wie kann ich ein Klon sein? Ich bin schließlich genauso alt wie du.«

»Ein Gen für schnelle Alterung? Was weiß ich, ich bin Ingenieurin und keine Biologin.«

Ich lachte laut auf. »Und zufällig siehst du mich genau in dem Moment, wenn ich exakt so aussehe wie du?« – »Gut, was dann?«, erwiderte sie trotzig.

Blix, Evelyn und Jerry hätten es sicher nicht gutgeheißen, aber ich erzählte Narcisa letztendlich alles: Dass ich ein Gestaltwandler war, von meinem Erwachen, von den Machenschaften der Kinder der Saat und von unserem Vorhaben, mich in das Allerheiligste der Sekte zu bringen. Während ich diese – zugegebenermaßen nicht weniger glaubwürdigen – Dinge vorbrachte, meinte ich, ein Feuer in ihren Augen erglimmen zu sehen. Sie unterbrach mich hier und da, um eine Verständnisfrage zu stellen, ganz ohne den affektierten Ton, den sie sonst ihrer Stimme gab.

Ich bin KWhere stories live. Discover now