22. L

214 20 7
                                    

Der Geruch von Räucherstäbchen, unangenehm in der Nase zwickend, breitete sich im Klassenzimmer aus. In der heutigen Stunde stand Meditation auf dem Plan. Wir saßen im Schneidersitz im Kreis um einen kleinen, qualmenden Altar aus Bronze. Diamond hatte die Vorhänge der Fenster zugezogen, sodass nur noch die Kerzenstümpfe hinter unseren Rücken Licht spendeten und unsere Schatten über den weißen Rauch tanzen ließen.

Wir mussten absolut still sitzen, die Augen geschlossen, die Hände dabei zu Fäusten geballt und vor der Brust aneinander gepresst. Von Zeit zu Zeit hob ich trotzdem ein Augenlid um sicherzugehen, dass ich nicht das Gleichgewicht verlor; ich hatte nicht die Absicht, in die Kerze hinter mir zu purzeln und im nächsten Augenblick in Flammen zu stehen. Im Hintergrund gab Diamonds Radio eine monotone Melodie von sich. Eigentlich sollten die Harfenklänge und Klagen der singenden Sägen entspannend auf uns einwirken, doch mich brachten die immer gleichen Tonfiguren fast um den Verstand. Ich wollte endlich raus aus diesem verqualmten Raum und an die frische Luft.

»Ich habe gute Neuigkeiten«, flüsterte Yella direkt neben meinem Ohr. – »Nicht hier«, antwortete ich. »Erzähl es mir nachher.« Das letzte was ich gebrauchen konnte war, dass Diamond den Namen ›Yggdrasil‹ in seiner Nähe hörte.

»Ihr macht das ausgezeichnet, meine lieben Saatkörnchen«, drang Diamonds Stimme wie durch einen dumpfen Schleier zu mir vor. Ich erdreistete mich das linke Auge einen winzigen Spalt weit zu öffnen. Er saß, wo ich ihn vermutet hatte: Mit dem Rücken zu uns, die Dreiecksbrille über die Stirn geschoben und die Füße über dem Tisch verschränkt, und ein Baseballspiel verfolgend, während er uns die Anweisungen über die Schulter gab. »Tief einatmen... Gut so... Jetzt tief ausatmen...«

Zum Ende der Stunde läutete Diamond ein Glöckchen, und die anderen erwachten aus ihrer Trance. Im Kopf rechnete ich spaßeshalber aus, dass ich mit dieser Sitzung 16,5 Credits dafür gezahlt hatte, ans Atmen erinnert zu werden.

Ich verließ den Raum so schnell es ging; nicht nur wegen der erwähnten Gerüche, sondern auch, weil Timo und ich noch eine Lieferung in einer Zweigstelle der Kirche abliefern sollten, und mein Reshift in drei Stunden bevorstand. Glücklicherweise schien er es genauso eilig zu haben, denn er stand schon mit Mütze und Schal mitten auf dem ehemaligen Schulhof und winkte mir zu.

Plötzlich spürte ich, wie mir jemand in den Nacken griff. »So schnell kommt ihr mir nicht davon«, sagte Yella laut. Über beide Ohren strahlend sah sie uns an. »Ratet mal, was ich gestern geschafft habe!«

»Deinen Roman fertig geschrieben?«, fragte ich frech zurückgrinsend. – »Jetzt übertreib mal nicht.« – »Vor zehn Uhr aufgestanden zu sein?«, tippte Timo. – »Sagt mal, wollt ihr mich auf den Arm nehmen?« – »Eigentlich schon, ja.« – »Leute, ich bin jetzt offiziell Blüte! Ich habe die Prüfung mit 64 von 100 Punkten bestanden!« – »Herzlichen Glückwunsch!«, rief ich freudig aus und umarmte sie kurz. Ich fühlte mich gleich viel besser im Wissen, dass ich im Zweifelsfall auch auf Yella zählen konnte.

»Ich weiß, 64 Punkte sind nicht viel, aber das ist mehr als ich je in meinem Leben in einem Test erreicht habe. Und das habe ich nur dir zu verdanken, Narcisa.« Beschämt sah ich zu Boden. »Naja, die Mnemotechnik war ja eigentlich deine Idee...« – »Sei nicht so bescheiden! Du hast dir Zeit genommen für mich, und das ist die Hauptsache.«  Was Yella wohl gesagt hätte, wenn sie die echte Narcisa kennen würde?

»Hast du schon eine Aufgabe?«, fragte Timo.

»Die gute Nachricht ist, ich muss keine Toiletten schrubben«, sagte Yella. »Weil ich mich ganz okay mit Firmenrecht auskenne, steckt man mich in die Rechtsabteilung.« – »Und die schlechte?« – »Mein Partner ist Francois.« Ich schielte rüber zu der lebenden Haargel-Werbung auf zwei Beinen, die gerade ihre Lackschuhe mit einem Taschentuch polierte. »Autsch.« – »Keine Sorge, ich werde ihm zur Not Manieren beibringen.«

Ich bin KWhere stories live. Discover now