2. Ariadnefaden

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»Du weißt es nicht«, sagte der Mann, und es klang mehr nach einer Feststellung als nach einer Frage.

Der eine oder die andere mag an dieser Stelle einwenden, dass ein kurzer Blick auf den eigenen Südpol alle Fragen nach dem Geschlecht aus der Welt räumen müsste. Ihnen sei gesagt, dass meine Gestalt einen solchen einfachen Schluss nicht zuließ – und aus Gründen der Diskretion möchte ich es bei dieser Erklärung belassen. Nur so viel: Mein Körper unterschied sich von dem eines Menschen nicht nur in Hautfarbe oder Augenform.

Mein leerer Blick schien dem Mann als Antwort zu genügen. Er sah in die Ferne und sagte halb zu mir, halb zu sich selbst: »Ich wusste, dass der Tag einmal kommen würde, dass sie einen Fehler machen...«

»Verzeihung«, meldete ich mich zaghaft zu Wort, und er zuckte erschrocken zusammen. »Bitte, können Sie mir sagen, wer ich bin?« wiederholte ich meine Frage.

»Ich kann dir nicht sagen, wer du warst«, sagte er mysteriös und fischte die Brille aus der Milchschüssel, um die Gläser mit seinem Hemdensaum zu reinigen. »Aber ich kann dir sagen, wie sie dich nennen. Gib mir bitte dein Gastgeberverzeichnis.«

»Mein was?« Und was meinte er damit, wer ich war?

»Das Gerät, das dich hierher geführt hat.« Achso, er meinte das tropfenförmige Navi. Als ich es ihm überreicht hatte, ging er damit an das Fensterbrett und steckte es in einen Blumentopf, der mit Erde gefüllt war. Nach etwa einer Minute zog er es wieder heraus und gab es mir wortlos zurück. Auf dem Display erschienen die folgenden Worte:

Willkommen, K. Es liegen keine Aufträge für Sie vor.

»Jeder von euch hat so ein Gerät. Es zeigt euch den Weg zu uns Gastgebern.«

Der Mann hätte auch Altägyptisch sprechen können, ich hätte genauso viel verstanden. Meine Gedanken waren immer noch bei dem Text auf dem Bildschirm. »Ich bin... K?« fragte ich langsam.

»Nur ein Tarnname«, sagte er. »Die Agentur ist nicht sonderlich kreativ was das angeht. Ihr Shifter heißt A, B, C, und so weiter.«

Allmählich beschlich mich das Gefühl, mit einer lebenden Ausgabe der Enzyklopädie zu sprechen. Vor meinem geistigen Auge klickte ich auf Hyperlinks, die sich in den Erklärungen meines Gegenübers verbargen, nur um mit noch mehr unbekannten Wörtern erschlagen zu werden. Agentur? Gastgeber? Shifter? Was hatte das bloß alles zu bedeuten?

»Bin ich... bin ich ein Mensch?«

Er schüttelte langsam mit dem Kopf. »Du warst einmal ein Mensch. Du bist jetzt ein Shifter... ein Gestaltwandler.« Er beobachtete mich und schien von mir zu erwarten, laut aufzuschreien oder in Tränen auszubrechen, aber ich konnte ihm den Gefallen nicht tun. Dazu war das erstens alles zu unglaublich, um wahr zu sein, und zweitens konnte ich mir nicht viel darunter vorstellen. Bilder von Werwölfen und Vampiren spukten in meinem Kopf herum.

Während ich unauffällig nach einem Mondkalender Ausschau hielt, fuhr der Mann zunehmend nervöser fort: »Hör mal, es gibt da Leute, die dir das besser erklären können als ich. Du musst wirklich hier weg. Sie – sie werden meinen Kindern etwas antun, wenn sie dich hier bei mir finden. Weißt du, wie du dich verwandeln kannst?«

Ich starrte ihn an.

»Äh, achso, selbstverständlich weißt du das nicht. Gedächtnisverlust und so, schon klar. Tja, das macht die Sache unnötig kompliziert, aber vielleicht geht es auch so...«

Er setzte das Baby in einen Kinderstuhl und wandte sich dann an die ältere Tochter: »Svea, kommst du mal bitte?«

Missmutig unterbrach das Mädchen das Spiel mit ihrem Bruder und trottete zu ihrem Papa. »Das hier ist K. – was sagt man zu Fremden?«

Ich bin KWhere stories live. Discover now