19. Faule Wurzeln

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Ich bestand trotzdem darauf, dass Timo von nun an die Leute ansprach, da ich möglichst schnell in dieser Kirche der Verrückten aufsteigen wollte, um endlich zu erfahren, wer ich wirklich war. Also beschlossen wir, dass ich samstags mit ihm das Ansprechen von Passanten übte. Wir trafen uns in seiner Wohnung, die er zusammen mit seiner Mutter bewohnte; über seinen Vater mochte er nicht sprechen, und aus Höflichkeit hakte ich nicht weiter nach. Aber auch seine Mutter bekam ich nie zu Gesicht, da sie selbst an Samstagen im Krankenhaus Dienst hatte.

Als ich Timo zum ersten Mal besuchte, kam es mir vor, als sei ich über eine magische Schwelle in ein Puppenhaus getreten. Seiner Mutter und ihm standen zwar insgesamt vier Etagen zur Verfügung, allerdings wurde die abenteuerliche Stahlkonstruktion von den beiden Nachbarhäusern eingequetscht, und erweckte den Anschein, nachträglich in eine bereits vorhandene Gasse platziert worden zu sein. In den Räumen konnten wir gerade so nebeneinander stehen, ohne dass wir feststeckten; für eine dritte Person reichte der Platz nicht. Um Raum einzusparen, verbanden fast vertikale Treppen die Stockwerke miteinander, und ich musste mich an den seitlichen Handgriffen festhalten, um nicht von den schmalen Stufen zu rutschen. Mit den beengten Verhältnissen ging man kreativ um. Die Herdplatten verbargen sich als Schubladen im Küchenschrank, seltener benötigte Dinge hingen in Netzen von der Decke, und alle Stühle und Tische ließen sich zusammenklappen und flach auf den Boden legen, wenn sie nicht gebraucht wurden.

Trotz alledem erschien mir die kleine Wohnung um einiges gemütlicher als Blixens Villa – vielleicht weil es hier abenteuerlicher zuging. Während wir so von Zimmer zu Zimmer kletterten, stellte ich mir vor, ein Segelschiff auf hoher See zu steuern; ich natürlich als Kapitän und Timo als mein Erster Maat. Als mir in meiner Träumerei einmal versehentlich ein »Schiff Ahoi!« herausrutschte, musste ich Timo in mein kindisches Spiel einweihen. Er lachte laut und schlug sich mit der Hand gegen die Stirn. »Weißt du, ich wohne hier seit ich denken kann, aber mir ist nie aufgefallen, dass es hier wie unter Deck aussieht!«

Zwischen den Übungen, in denen ich grantige Passanten spielte, alberten wir fortan gemeinsam herum und erforschten unentdecktes Land oder verteidigten Goldschätze gegen Piratenangriffe. Uns war es herzlich egal, dass wir eigentlich schon längst aus dem Alter heraus gewachsen waren, es machte einfach einen Heidenspaß, in verschiedene Rollen zu schlüpfen. Timo bewies dabei großes schauspielerisches Geschick, sodass es mich umso mehr schmerzte, dass er wohl nie vor Publikum auftreten würde.

Und tatsächlich, nach drei Wochen üben machte er erste Fortschritte. Ihm gelang es, einen Geschäftsmann, der es offensichtlich eilig hatte, in ein Gespräch zu verwickeln und zu meinem Stand zu führen. Nach zehn Minuten hatte ich ihn um den Finger gewickelt und er überließ mir bereitwillig seine persönlichen Daten, um von der Kirche zum Antistressseminar eingeladen zu werden. Das war zwar noch keine sichere Mitgliedschaft, aber immerhin ein Anfang. Ich gratulierte freudig Timo und klopfte ihm anerkennend auf die Schulter.

»Mein Herz hat gerast wie verrückt«, gestand er mir, »und gestottert habe ich auch.«

»Hat aber doch super geklappt. Immer dran denken, ein ›nein‹ tut nicht weh.«

»Wenn das mit Mädchen doch nur genauso einfach wäre«, scherzte Timo und sah zur Seite.

»Noch keine Freundin gehabt, wie?«, fragte ich so beiläufig wie nach dem Wetter. Zu spät bemerkte ich, dass ich einen wunden Punkt getroffen hatte, und biss mir auf die Lippen.

»Nicht wirklich«, murmelte der Junge kleinlaut. ›Verdammt, K!‹, schalt ich mich selbst. ›Das geht dich auch einen Scheißdreck an. Außerdem ist er doch erst fünfzehn.‹ Timo trottete mit hängenden Schultern zurück zum Bürgersteig.

An diesem Tag saß mir niemand mehr am Stand gegenüber.

Zwar konnten wir alle paar Tage ein Neumitglied verbuchen, aber der große Erfolg blieb aus. Im internen Netzwerk der Kirche gab es ein Ranking mit den besten Werbern des Monats, wo wir weit abgeschlagen den 17. Platz belegten – der auch zugleich der letzte war. Beim Anblick von 31 Abschlüssen des erstplatzierten Teams wurde mir ganz schwindelig. Wie sollten wir jemals so gut werden?

Ich bin KTempat cerita menjadi hidup. Temukan sekarang