11. Läuterung

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Wenn ich von einer Charaktereigenschaft sicher war, dass sie aus meinem vorigen Leben stammte, dann die Abneigung gegen frühes Aufstehen. Morgens wollte ich mein kuscheliges Bett, das sich in der Nacht durch meine Körperwärme aufgeheizt hatte, nicht verlassen. Denn die Winterkälte drang durch die Ritzen in den Holzwänden der schäbigen Hütte ungehindert ein, und wenn ich die Bettdecke zurückschlug, fühlte ich mich jedesmal, als ob mir jemand einen Eimer Eiswasser über den Kopf geschüttet hätte. Blix hatte mir zwar einen Radiator zur Verfügung gestellt, aber das Ding musste jahrelang unbenutzt auf einem Dachboden gestanden haben, denn der Heizkörper gab mehr Staub als Wärme ab.

Wenigstens war ich mit meinem Problem nicht alleine; denn als ich nach dem Frühstück auf unser geheimes Klopfzeichen hin die Tür öffnete, begrüßte mich Evelyn mit einem herzhaften Gähnen.

»Tschuldigung«, sagte sie und sah zu, wie ich mich in sie verwandelte. »Narcisa ist mir gestern Nacht tierisch auf die Nerven gegangen. Sie hat heute angeblich einen wichtigen Termin, der über ihre ganze Karriere entscheidet, und ich musste ihr zwei Stunden lang dabei helfen, das richtige Kleid auszusuchen.«

»Du Ärmste.« Die Vorstellung, Narcisas nervige Art über einen so langen Zeitraum ertragen zu müssen, kam mir schlimmer vor als die Alpträume, die mich immer noch jede Nacht plagten.

Ich wollte mich zum Bahnhof aufmachen, doch Evelyn hielt mich an der Schulter zurück. »Eine Sache noch: komm bitte direkt danach zur Villa. Jerry hat deine Aufnahmen gesichtet und will mit dir noch ein paar Dinge besprechen.«

»Kein Problem. Ich habe bis zur Läuterung heute Nachmittag ja eh nichts zu tun.«

»Und äh... darf ich dich dann ein bisschen anschreien? Ich wollte Narcisa schon immer mal ein paar Dinge ins Gesicht sagen.«

Ich grinste zurück. »Wenn's dich glücklich macht.«

Wie immer fand ich Blix und Jerry im Salon vor. Sie betrachteten meine Videoaufnahmen auf dem Rollbildschirm. Wenn Gesichter in den Vordergrund rückten, blendete eine Art Analysesoftware weitere Informationen ein, etwa ›zweifelt 30%‹ oder ›ängstlich 99%‹. Besonders lange hielten sie sich bei Timo und der Frau mit den pinken Haaren, deren Namen ich vergessen hatte, auf, und spulten wieder und wieder zu ihnen zurück. Mit einem Räuspern machte ich auf mich aufmerksam.

»Ah, du kommst gerade recht«, sagte Blix und winkte mich heran. »Wir haben vielversprechende Angriffspunkte gefunden.«

»Angriffspunkte?« So formuliert klang es eher danach, Menschen zu manipulieren, als ihr Freund zu werden.

Der Detektiv lachte. »Ja, die Sprache der Fachliteratur ist ein wenig martialisch. Was ich sagen will ist: Wir wissen, wie du Timo und Yella für dich gewinnen kannst.« Ach ja richtig, Yella hieß sie.

»Es war nicht leicht«, meldete sich Jerry zu Wort. »Es war nicht klug, gestern sofort zu verschwinden.«

»Ich konnte nicht mit Yella mitgehen«, verteidigte ich mich. »Mir blieb nicht mehr viel Zeit bis zum Reshift.«

»Du hättest wenigstens noch ein wenig Smalltalk machen können.«

»Na, na«, wandte sich Blix an Jerry. »Ist ja nicht so, als ob du dich mit Smalltalk auskennen würdest.« Jerry reagierte nicht weiter darauf und drehte sich wieder zum Bildschirm.

»Unserem Psychogramm nach ist Timo passiv-tardiv. Er passt sich neuen Situationen nur zögerlich an und sucht Hilfe bei vertrauten Personen und Abläufen. Zu diesen geht er eine größere emotionale Bindung ein als andere Menschen. Von Autorität lässt er sich leicht beeindrucken.«

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