18. Zuckerbrot und Peitsche

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»Ach, bevor ich es vergesse«, sagte ich im Hinausgehen und nahm meine AR-Brille ab. »Silberpfeil scheint darin eingeweiht zu sein, was die Kirche im Verborgenen macht.«

Blix hob eine Augenbraue. »Ungewöhnlich. Eigentlich hatte ich angenommen, dass das Wissen nur den Obersten vorbehalten ist.« Er setzte die Brille auf, und in den Scheiben erschien spiegelverkehrt die Aufnahme meines heutigen Tages.

Als er sie zu Ende gesehen hatte, fragte ich: »Wissen Sie, was diese ›B-Sektion‹ ist, von der er gesprochen hat?«

»Nein, da bin ich überfragt. Wir kennen den Aufbau des Vaults nicht. Jedenfalls hoffe ich, dass Silberpfeil vorsichtig bleibt. Mit den Kindern haben sich schon ganz andere angelegt, deren Karriere jetzt ruiniert ist.«

Im nächsten Seminar, zu dem wieder nur die Stammbesetzung erschien, überreichte uns Rock Diamond tatsächlich Tickets für das MagLev-Rennen im Frühling. Vorsichtig wie ein rohes Ei hielt ich die schmale Karte zwischen meinen Fingern, die auf Narcisas Namen ausgestellt war, und auf dessen oberer rechter Ecke ein Hologramm ihres Gesichtes prangte. Sie war mit Geld nicht aufzuwiegen. Nicht einmal der gut vernetzte Blix wäre imstande, ein solches Ticket aufzutreiben. Nun zählte ich zu den 50.000 Glücklichen, welche die blitzschnellen Mags aus nächster Nähe erleben durften.

Yella konnte es genauso wenig erwarten wie ich, dass endlich Frühling wurde. Timo dagegen schaute nur kurz mit leerem Blick auf sein Kärtchen und ließ es dann in seiner Hosentasche verschwinden, wo es garantiert einen Knick bekam; schon die Vorstellung ließ einen Schauer über meinen Rücken jagen. Er hatte uns begrüßt, als ob vergangene Woche nichts geschehen wäre, aber Timo schwieg weiterhin über das, was er im Rehabilitationsprogramm erlebt hatte. In den darauffolgenden Wochen öffnete er sich langsam wieder und erzählte Geschichten von seiner Arbeitssuche, aber genauso, wie seine Haare noch Zeit zum Wachsen benötigten, schien er sich noch nicht ganz erholt zu haben.

Aber mir blieb keine Zeit darüber nachzugrübeln. Jeden freien Tag büffelte ich für die Prüfung. In den Abendstunden dagegen traf ich mich mit Narcisa, damit sie auch noch den letzten Kristall des Speichers ihrer Kamera mit Bildern von sich füllen konnte. Kurz vor der Sonnenwende wollte der Winter noch einmal so richtig zeigen, was er drauf hatte, und sandte sein weißes Rauschen vom Himmel herab. Wenn es nicht schneite, rüttelten schwere Winde an meinen Fensterläden, oder jaulten wie Schakale durch die Ritzen in den Wänden. Bei diesem ungemütlichen Wetter konnte sich selbst Evelyn, die es sonst keine Stunde am gleichen Ort aushielt, nicht dazu aufraffen, das Apartment zu verlassen, das sie sich mit Narcisa teilte.

Da Narcisa allerdings auch nicht gewillt war, mich in meiner schlecht beheizten Hütte zu besuchen, verabredete sie sich in Restaurants und Cafés mit mir, wo sie (etwas zu früh für meinen Geschmack) als Weihnachtsmann mit Rauschebart und rotem Mantel getarnt aufkreuzte. Wir zwei mussten einen seltsamen Anblick abgeben; ein dünner Weihnachtsmann mit hoher Stimme, der eine Frau mit Fuchsgesicht und schulterlangen schwarzen Haaren beim Kaffeetrinken fotografierte. »Genau so, perfekt. Hach, jede meiner Bewegungen ist ein kleines Kunstwerk für sich.«

Ja, Narcisa wurde des Eigenlobs nie müde. Allerdings sei zu ihrer Verteidigung gesagt, dass sie sich von Mal zu Mal mehr Mühe damit gab, freundlich zu mir zu sein. Ich vermutete, dass sie mich damit nur für schlimmere zukünftige Schandtaten gnädig stimmen wollte, aber im Moment genoss ich den Anblick einer Narcisa, die sich unter sichtbarer Anstrengung nette Worte für jemanden anderen als sich selbst abrang.

»Du hast eine schöne... Persönlichkeit«, sagte sie eines Abends aus heiterem Himmel beim Dessert. Ich verschluckte mich vor Überraschung fast am Schokokern meines Tartufos. Dann schob sie mir unauffällig eine kleine Pralinenschachtel über den Tisch zu, oder besser, sie stieß sie von sich wie die Geldtasche bei einer geheimen Übergabe unter Gangstern.

Ich bin KWhere stories live. Discover now