3. Die Kinder der Saat

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Der Junge, der sich mir als Jerry vorgestellt hatte, nahm einen zweiten Helm aus einem Fach unter dem Sitz. »Du musst hinten aufsitzen, aber bei deiner Größe wird es dir schwer fallen, dich festzuhalten.«

Er hatte Recht. In meinem Kinderkörper würde ich bei der kleinsten Kurve in den Graben fliegen. »Wenn ich nur in meiner vorigen Form wäre«, dachte ich laut vor mich hin.

»Du bist also gar kein Kind?«

»Lieber Himmel, nein! Ich bin eigentlich so groß wie du. Naja, etwas kleiner schon.« Von meinem Standpunkt aus betrachtet wirkte Jerry fast wie ein Hüne; und tatsächlich maß er, wie ich später von ihm erfahren würde, gut zwei Meter.

»Dann ist ja alles ganz einfach«, sagte er. »Du musst dich einfach wieder in deine Normalform zurückverwandeln.«

Achso. Natürlich. Warum hatte ich daran noch nicht gedacht? Vielleicht, weil ich immer noch nicht die leiseste Ahnung habe, was hier abgeht? Ich schluckte meine Ironie herunter und fragte: »Und wie mache ich das?«

Jerry zuckte mit den Schultern. »Wir wissen nur, dass das geht, aber nicht wie. Probiere am Besten das Gleiche wie vorher.«

Ich schloss meine Augen und befreite mich von allen störenden Gedanken. Ich konzentrierte mich nur auf das Spiegelbild, wie ich es in der Schaufensterscheibe gesehen hatte. Ein Gefühl der inneren Ruhe breitete sich in meinem Körper aus, während ich gleichmäßig ein- und ausatmete. Wie zuvor wurde mir unwohl, als meine Verwandlung einsetzte. Zunächst spürte ich nur ein leichtes Ziehen in meinen Gliedern. Dann wuchs ich in rasanter Geschwindigkeit. Der Hemdkragen schnürte mir den Hals zu, ich glaubte zu ersticken, doch glücklicherweise lösten sich die Knöpfe unter der Spannung und schossen wie Pistolenkugeln von mir weg. Auch meine Hose konnte dem Wuchs nichts entgegensetzen und zerriss in Fetzen, und bald folgten die übrigen Kleidungsstücke. Das einzige, was mir jetzt noch Schutz vor der Kälte bot, war die gelbe Seemannsjacke, die ich seit meinem Erwachen mit mir führte.

Jerry hatte die Verwandlung interessiert, aber mit vollkommen gleichgültiger Miene verfolgt. Vermutlich sah er so etwas täglich, dachte ich.

»Das hat wohl nicht ganz geklappt«, kommentierte er lakonisch und drehte dann den Lenker des Motorrads, damit ich mich im Seitenspiegel begutachten konnte. Ich erwartete, die jadegrüne Haut und die Reptilienaugen wiederzusehen, doch stattdessen erblickte ich einen verwirrten Jungen mit braunen Haaren. Ich hatte mich versehentlich in Jerry verwandelt.

Unsere Fahrt führte uns noch weiter von der Stadt weg. Vom Wald aus ging es eine steile, kurvige Straße hinauf in die Berge, dem wohl letzten Fleck unberührter Natur auf dieser Insel. Gerne hätte ich die Landschaft und die fantastische Aussicht zu meinen Seiten bewundert. Leider war ich zu sehr damit beschäftigt, mich an Jerry festzuklammern, der im rasanten Fahrstil um die Kurven heizte. Während der Fahrt verlor ich langsam das Gefühl in meinen Händen, da sie dem eisigen Wind ungeschützt ausgesetzt waren. Als wir endlich nach gut zwanzig Minuten vor einem grün gestrichenen Stahltor auf einer Lichtung zum Stehen kamen und absteigen wollten, musste sich Jerry mit Gewalt von mir befreien. Von allein konnte ich keinen einzigen Finger mehr krümmen. Während ich meine schmerzhaft brennenden Finger an meinem Gesicht wieder aufwärmte, sah ich mich auf der kleinen Anhöhe um.

Das Tor gehörte zu einer hohen Steinmauer, die eine Parkanlage umschloss. Obwohl sie ohnehin schon recht klein war (vielleicht 20 Schrite lang), wurde der Rasen durch zwei breite, mit frischen weißen Kieseln bestreute Wege unterbrochen, die ein Kreuz bildeten. In dessen Mitte erhob sich ein prächtiger Springbrunnen, von dem aus mich eine bronzene Drachenstatue böse anfunkelte. Ein roter Scheinwerfer in seinem Maul ließ es so aussehen, als ob das Wasser, das er in das Bassin spuckte, sein feuriger Odem wäre. Der Weg führte zu einem Gebäude, für das mir nur das Wort ›ausgefallen‹ einfiel: Ein zweistöckiges Anwesen, die Grundmauern aus karminroten, winzigen Ziegelsteinen; die Ebene darüber mit hölzernem Fachwerk durchzogen; zwischen den Fenstern bullige Säulen; und zur Rechten, als Anbau, eine breite Garage mit Wänden aus hässlich grauem Beton. Das Garagentor stand einen Spalt breit offen.

Ich bin KWhere stories live. Discover now