15. Canne de Combat

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Es kam mir vor, als hätte ich nicht ein paar Minuten, sondern Tage, Wochen, ja Monate mit dem Rücken im Schnee gelegen, bevor ich mich wieder regte. Für einen Moment befürchtete ich, für alle Ewigkeit auf dem Dach festgefroren zu sein, so steif fühlten sich meine Glieder in der Kälte an. Ich wäre wohl noch eine ganze Weile weiter so verblieben, hätte nicht plötzlich Yella neben mir den Oberkörper aufgerichtet.

»Timo! Sei vorsichtig!«, rief sie laut.

Ich folgte ihrem Blick und sah, wie Timo mit ausgebreiteten Armen die Steinkante des Daches entlang balancierte und dabei die ganze Zeit über wie hypnotisiert in den Abgrund starrte. Schon vom Anblick glaubte ich, in ein endloses Loch zu fallen, und ich fühlte mich, als ob mir gerade jemand einen Tritt in die Mangengrube verpasst hätte.

»Bist du wahnsinnig?«, krächzte ich mit halb erstickter Stimme. »Komm da sofort runter! Was, wenn du von einem Windstoß erfasst wirst?«

»Es weht aber nicht«, antwortete mir Timo gelassen, und ließ weiter nicht die Augen vom Boden ab, von dem ihn ein gutes Dutzend Meter Luftlinie trennte.

»Und wenn du stolperst?«

»Stolperst du beim Laufen? Das ist doch nichts anderes als Gehen. Spielt doch keine Rolle, ob ich neben mir nur die Straße oder eine tiefe Schlucht habe.«

Wie konnte der Junge nur so unvernünftig sein? Bisher hatte er doch keinen mutigen Eindruck auf mich gemacht. Wobei, mit Mut hatte das nicht viel zu tun – das war wortwörtlich tollkühn. Ich erhob mich, klopfte mir den Schnee von den Hosenbeinen, und ging ein paar Schritte auf Timo zu, unschlüssig, wie ich ihn von der Kante ziehen konnte, ohne dass ich das drohende Unglück erst auslöste.

»Es ist aber nicht gerade das beste Wetter für einen Drahtseilakt«, sagte ich, und versuchte, dabei so ruhig wie möglich zu klingen. »Die Kante ist bestimmt vereist!«

»Nun, da ist aber kein Eis. – Hey, meint ihr, ein Sturz aus dieser Höhe wäre tödlich?« Er lachte leise in seinen Schal.

Aus den Augenwinkeln sah ich, wie Yella die Fäuste ballte, aber auch sie wusste nicht, was sie tun sollte. »Verdammte Scheiße, damit macht man keine Scherze!«, brüllte sie so laut, dass man es unten von der Straße hören musste.

»Ich glaube ja nicht«, fuhr Timo in einem belehrenden Tonfall fort, als würde dieses Gespräch in einem Hörsaal und nicht auf einem Dach stattfinden. »Wie hoch sind wir? Vielleicht zehn, fünfzehn Meter?« Er blieb stehen, ging in die Hocke, und blickte angestrengt nach unten. »Der Schnee ist recht tief. Wenn ich Glück habe, würde ich mir nur eines oder beide Beine brechen. Ich könnte natürlich auch mit dem Kopf zuerst aufkommen. Blöde Sache, diese Ungewissheit, oder?«

Ich tauschte einen besorgten Blick mit Yella aus. »Bitte... lass das...«, flüsterte ich.

»Na gut«, sagte Timo und hüpfte leichtfüßig vom Vorsprung zurück auf das Dach. »Na, wer ist jetzt ein feiges Huhn?«

Er lächelte mir und Yella zu, und machte sich dann daran, wieder die Feuerleiter hinabzusteigen. Sein Gesichtsausdruck schwebte noch ein paar Sekunden vor meinem inneren Auge: Sein Mund und seine Wangen strahlend vor Freude, doch seine Augen sprachen von einer Traurigkeit tiefer als jeder Abgrund dieser Welt.

Wir gingen eine Weile stumm hinter Yella her, die uns immer noch zu ihrer Wohnung führte, denn der Sonnensturm wütete weiterhin über unseren Köpfen. Ich war ganz froh darüber, nicht reden zu müssen, denn ich war mit meinen eigenen Gedanken beschäftigt. Ich konnte mir überhaupt nicht erklären, was in diesen Jungen gefahren war, der jetzt wieder zitternd vor Kälte und auf unsicheren Beinen versuchte, mit uns beiden Größeren Schritt zu halten. Schon bereute ich, die AR-Brille nicht mitgenommen zu haben. Es wäre interessant zu erfahren, was unser Küchenpsychologe Jerry zu dieser Episode gesagt hätte.

Ich bin KWhere stories live. Discover now