10. Rock Diamond

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Das Blut schoss mir in den Kopf und mein Lachen blieb mir im Hals stecken.

»Oh, hallo! Du bist neu, richtig?« fragte Rock Diamond und blinzelte mich mit freundlichen Augen an.

»Ja, ich... bin Narcisa...«

»Habe ich etwas Lustiges gesagt?«

»N-Nein«, stammelte ich und suchte verzweifelt nach einer Ausrede. Zum Glück sprang mir die Frau zu meiner Linken bei. Ohne von ihrem Magazin aufzusehen sagte sie: »Ich hab' Narcisa bloß 'nen Witz erzählt. Kommt nicht wieder vor, Doc.« Anschließend schob sie sich einen Kaugummistreifen in den Mund.

Diamond lächelte. »Dann ist ja alles in Ordnung. Aber Liebes, hör bitte damit auf, mich ›Doc‹ zu nennen.«

»Natürlich. Sobald du mich nicht mehr ›Liebes‹ nennst, Doc.«

Er seufzte, schüttelte seinen Kopf und wandte sich dann wieder an die Gruppe. »Nun, was ich eben sagen wollte: Herzlich Willkommen bei den Kindern der Saat! Ich finde es ganz toll, dass ihr zu uns gefunden habt. Habt keine Angst, wir sind hier alle eure Freunde! Am Anfang wird euch sicher einiges seltsam vorkommen, aber glaubt mir, alles was hier geschieht, hat einen Sinn. Unsere Lehre folgt den Verkündungen Gray Goldschies – möge er ewig blühen – auf die Silbe genau. Unsere Übungen helfen euch, den stressigen Alltag zu vergessen und sich auf das Wesentliche zu besinnen.«

Dann hob er seine Arme genauso wie die Blume auf dem Symbol der Kirche. Die älteren Mitglieder schienen das Ritual bereits zu kennen und taten es ihm gleich. »Los, mach mit«, flüsterte mir Timo zu, und ich ahmte die Haltung nach.

»Schließt eure Augen, Kinder. Atmet tief ein... und wieder aus. Ein und wieder aus. Still! Hört ihr den Ruf des Weltenbaums?«

Mehrere Minuten vergingen, ohne dass ich auch nur das geringste Geräusch vernahm. Wie lange wir wohl noch so verharren mussten? Langsam schliefen meine Arme ein. »Ja, ich höre ihn! Der Baum spricht zu mir!« rief da plötzlich ein Mann hysterisch laut von der anderen Seite des Raumes. Ich zwang mich, die Augen weiter geschlossen zu halten, aber konnte mir ein abermaliges Kichern nicht verkneifen. Zur Strafe boxte mir Timo mit dem Ellenbogen in die Seite.

»Rasch, was sagt er?« fragte Diamond aufgeregt.

»›Der Holunder ist giftig, doch seine Blüte schön.‹«

»Ah, ausgezeichnet. Arboretik, 121:4. Die Bedeutung dieser Worte tritt klar hervor.«

Für mich nicht. Ich hatte keine Ahnung, was mir der Satz sagen sollte. Genausowenig verstand ich den Sinn der nächsten Übung: In Zweiergruppen musste eine Person, Schüler genannt, der anderen Person (dem ›Lehrer‹) in die Augen sehen und völlig emotionslos von 1 bis 1000 zählen. Der Lehrer war angehalten, den Schüler zu verunsichern, und bemerkte er nur den Hauch einer Reaktion, musste dieser wieder von vorne beginnen. Ein Spiel, das der stoische Jerry vermutlich mit Leichtigkeit gewonnen hätte.

Ich wurde Timo als Schüler zugeteilt. Rock Diamond ging von Paar zu Paar und gab Tipps und Anweisungen. Überall im Raum wurde gezählt, unterbrochen von lauten »Fehler!«-Rufen. Ich ließ mich davon nicht beirren und konzentrierte mich auf meine Zahlenreihe. Ich kam bis 60, dann streckte Timo mir seine Faust bis kurz vor die Nase, und ich zuckte reflexartig zusammen. »Das war ein Fehler«, bemerkte er zaghaft. Ihm tat seine Aktion sichtlich leid. Die Frau mit den pinken Haaren neben mir ging wesentlich ruppiger mit ihrem Trainingspartner um.

Die Übung wollte und wollte nicht enden. Ich hätte gerne auf die Uhr an der Wand des Klassenzimmers gesehen, aber dafür hätte ich den Kopf drehen müssen. Und das konnte ich mir nicht leisten, ich war schon bei 726. Bevor ich die Tausend erreichte, forderte uns Diamond zum Rollentausch auf. Die ganze Sache hatte tatsächlich eine geschlagene halbe Stunde gedauert.

Ich bin KWo Geschichten leben. Entdecke jetzt