25. Zwiebelschichten

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Hinweis für Leser:innen vor dem 23.05.20: Die Figur "Sebastian McLaren" heißt jetzt "Levegh Silberpfeil".

Meine Erinnerungen daran, wie ich vom Renngelände zurück in meine Gartenhütte fand, sind verblasst. Ich weiß noch, dass wir mit einem Schiff zurück nach Hagangre fuhren, aber nicht mehr, worüber Yella, Timo und ich während der Überfahrt sprachen. Evelyn, die das Rennen im Fernsehen verfolgt hatte, rief an und erkundigte sich, ob alles in Ordnung war, und ob ich zur Villa Blix kommen wollte. Aber im Moment fühlte ich mich noch nicht bereit, darüber zu reden. Ich machte mir Dosenravioli in der Mikrowelle warm, da ich seit zehn Stunden nichts gegessen hatte, und setzte mich mit dem Handy an den Küchentisch.

In den Nachrichten stand, dass Silberpfeil seinen schweren Verletzungen erlegen war. Als vermutete Ursache des Unfalls wurde ›technisches Versagen‹ angegeben, aber hinter jeder Technik steckten letztendlich Menschen, die diese erschaffen hatten, mitsamt potentiellen Fehlern. Es war ja nicht so, dass die Maschine ein Eigenleben führte, einen schlechten Tag gehabt hatte und deswegen aus der Kurve geflogen war. Irgendein Mensch war dafür verantwortlich, und dieser würde heute Nacht wahrscheinlich kein Auge zumachen.

Ich konnte allerdings auch nicht behaupten, sonderlich gut zu schlafen. Um halb drei morgens schreckte ich in aus dem Bett hoch, schweißgebadet und rasch atmend. Das verfluchte Geräusch vom Moment des Aufpralls, als der Mag die hölzerne Kulisse durchschlagen hatte, verfolgte mich bis in meine Träume. Ich wälzte mich eine Weile von einer Seite zur anderen, aber konnte nicht wieder einschlafen. Mein Blick fiel auf das blinkende blaue Licht meiner AR-Brille, die auf meinem Nachttisch lag und den Akku auflud. Den ganzen Tag über hatte ich gefilmt.

In einem Anflug von morbider Faszination setzte ich mir die Brille auf die Nase und spulte zu dem Moment, als das Fahrzeug von der Fahrbahn abgekommen war. Immer und immer wieder sah ich mir an, wie die Retter zum Ort des Unglücks eilten, und hörte die Entsetzensschreie der Zuschauer. Dann drehte ich die Zeit weiter zurück. Levegh lächelte uns auf der Tribüne zu, er freute sich sichtlich auf das Rennen. Mit 19 hatte er noch sein ganzes Leben vor sich gehabt. Er küsste seinen Anhänger. Viele hatten ihn wegen der eigentümlichen Figur an der Halskette belächelt, die er wie einen Talisman zu jedem seiner Rennen trug. Sie stellte die griechische Göttin Themis dar, die auf einem Dreibein saß und die Zukunft aus einer Wasserschale las. Dieses Mal hatte sie Silberpfeil kein Glück gebracht.

Die 3D-Ansicht der Brille ließ die Szenen so real wirken, dass ich versucht war, ihn vor dem drohenden Unheil zu warnen. Aber im Gegensatz zur Göttin konnte niemand an diesem Tag ahnen, was passieren würde. Oder etwa doch? Mir fiel ein, was Blix zu mir gesagt hatte: dass die Kinder der Saat nicht davor zurückschreckten, unliebsame Personen auszuschalten. Aus dem Gespräch zwischen Silberpfeil, Diamond und Duncan, das ich belauscht hatte, ging hervor, dass der Rennfahrer mehr wusste als ein gewöhnliches Kirchenmitglied. Vielleicht wusste er zu viel?

Gehen wir die Sache methodisch an. Um eine solche Fehlfunktion auszulösen, musste man den Mag sabotieren. Entweder war der Täter Teil des Rennteams, oder er hatte sich auf andere Weise Zugang zur Box verschafft. Sah man einmal von der Möglichkeit eines Einbruchs ab, erweiterte sich der Verdacht auf das Management, den Schiedsrichter, sowie Freunde des Rennfahrers. Und für einen Shifter wäre es kein Problem, sich als eine dieser Personen auszugeben.

Und noch jemand war kurz vor Beginn des Rennens in Silberpfeils Box gegangen: Duncan. Ich versuchte, möglichst viele Stellen nach dem Unfall zu finden, die Duncan zeigten. Vielleicht verriet seine Mimik, dass er von dem Ereignis alles andere als überrascht war. Leider hatte er einige Reihen hinter mir gesessen, und da ich wie alle anderen nur Augen für die Unglücksstelle hatte, gab es diese Bilder nicht.

Ich war kurz davor aufzugeben und meinen Schlaf fortzusetzen, als ein Detail an Duncans Kleidung meine Aufmerksamkeit erregte. Es war eine Momentaufnahme kurz vor Beginn des Rennens, er stieg die Treppe der Tribüne hinauf, was ich aus dem Augenwinkel wahrgenommen hatte. Aus seiner linken Sakkotasche ragte eine Kette hervor. Eine Kette, die eigentlich um den Hals von Silberpfeil gehörte. Ich ließ die Aufnahme weiterlaufen, bis zu dem Punkt, kurz bevor der Rennfahrer in seinen Mag stieg. Mit dem Rädchen an der Seite der Brille zoomte ich heran.

Ich bin KWo Geschichten leben. Entdecke jetzt