6. Kapitel

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Hailey

Syd ist schon fünf Minuten zu spät. Ich blicke von meiner Handyuhr auf und überlege, ob ich Sydney anrufen soll. Normalerweise ist sie immer pünktlich.

Als ich ihre Nummer raussuche, höre ich ein Hupen. Schnell nehme ich meine Tasche, ziehe meine Sonnenbrille an und schließe meine Haustür ab.

Sydney winkt mir vom Beifahrersitz zu und als ich London erblicke, schlucke ich. Irgendwie ist mein Ausbruch auf der Party peinlich, ich hätte nicht so überreagieren sollen. Aber sobald jemand über mich bestimmt oder es versucht, sehe ich rot.

„Morgen", sage ich und versuche London's grauen Augen auszuweichen.

„Guten Morgen, tut mir Leid, dass wir zu spät sind", entschuldigt sich Sydney und lächelt mich freundlich an.

„Kein Problem, wir werden ja nicht zu spät kommen", sage ich und setze mich nach hinten. Londons Augen suchen meine im Rückspiegel und ich lächle leicht, als ich seinen fragenden Blick sehe. Ein unwiderstehliches Lächeln schleicht sich auf seine Lippen und ich drehe mich schnell weg.

Syd und ich unterhalten uns während der Fahrt über Hausaufgaben, die wir gemacht oder nicht gemacht haben. Als wir halten, steigt Syd aus und als ich ebenfalls den Gurt löse, höre ich London sagen: „Können wir kurz reden?"

Ich schlucke meine Angst hinunter und nicke. „Klar."

„Also... ich wollte mich entschuldigen", fängt London an und kratzt sich am Hinterkopf. Ich blicke ihn verwundert an. „Es tut mir Leid, dass ich Anthony gesagt habe, er soll sich von dir fernhalten. Anscheinend ... wolltest du das nicht. Es tut mir Leid."

„Danke. Aber ich muss mich auch entschuldigen. Ich hätte nicht so ausflippen dürfen. Tut mir Leid." Mit diesen Worten steige ich auf, lächle ihn ein letztes Mal zu und gehe zu Sydney, die mich mit einem verschwörerischen Lächeln begrüßt.

„Na? Was hast du denn mit meinem Bruder zu bereden?"

„Nichts wichtiges", sage ich und ziehe sie ins Gebäude. „Wenn du meinst."

Der Unterricht zieht sich in die Länge. In der Mittagspause sitze ich mit Sydney bei Louis, mittlerweile einem gemeinsamen Freund von uns. Louis ist als einziger aus unser ehemaligen „Clique" geblieben, die anderen, also Nate, Hunter, Sam und Brandon, haben ihren Abschluss gemacht. Louis ist groß, braune verwuschelte Haare umrahmen sein Gesicht und er hat braune Augen.

„Oh Mann, ich schreibe gleich einen Mathetest und irgendwie ist jede Formel wieder aus meinen Gedanken verschwunden. Wie geht das?", jammert Louis und ich verdrehe die Augen.

„Du wirst eh ne eins schreiben und musst überhaupt keine Angst haben", beruhigt Syd ihn und ich kann ihr nur zustimmen. Louis ist verdammt gut in der Schule.

„Nein, diesemal nicht. Ich geh in die Bibliothek, hier ist es zu laut, um sich zu konzentrieren", murrt er, packt seine Sachen zusammen und verzieht sich in die Bibiothek.

„Der macht sich zu viele Gedanken", kommentiert Sydney. Ich nicke zustimmend und widme mich meinem Essen.

„Alles okay bei dir? Du bist heute so still", sagt Syd und mustert mich besorgt.
„Nein, ich bin nur in Gedanken, alles gut", erwidere ich und streiche eine braune Strähne aus meinem Gesicht.

„Okay." Für einen Moment überlege ich, ihr die Sache mit London zu erzählen. Aber es gibt eigentlich nichts zu erzählen.

Nach der Schule setzte ich meinen Plan, meine Mutter anzurufen in die Realität um. In einem kleinen Handyshop kaufe ich mir ein billiges Wegwerfhandy. Im Park setzte ich mich auf einen abgelegene Bank und krame meine beiden Handys raus.

Die Nummer meine Mutter habe ich eingespeichert, aber ich würde nie über mein eigentliches Handy anrufen. Die Gefahr, dass der Anruf irgendwie zurückverfolgt werden könnte, ist zu groß.

Mit zitternden Fingern tippe ich die Nummer ein und zögere, bevor ich auf das Anrufsymbol tippe. Nervös fahre ich mir durch die Haare.
Als das erste Tuten ertönt, entfährt mir ein erleichterter Seufzer. Sie hat ihre Nummer nicht geändert.

„¿Hola?", meldet sie sich und im ersten Moment bekomme ich kein Wort raus. Ihre Stimme zu hören, nach fast sechs Monaten.

„Mamá?", frage ich mit zitternder Stimme.
„Ist-ist da ...?"

„Ja, ja. Mama ich bin es", sage ich und ich höre einen erstickten Schluchzer. Als ich von Zuhause verschwunden bin, haben Mama und ich abgemacht, bei zukünftigen Telefonaten nicht auf spanisch, sondern englisch miteinander zu sprechen. Das ist sicherer. So kann nicht ein Angestellter unser Telefonat belauschen.

„Mi amor, wie geht es dir? Geht es dir gut? Du fehlst mir so schrecklich." Ihr Englisch ist zwar gut, aber sie spricht mit einem sehr starken Akzent.
„Ja, Mamá, mir geht es gut. Ich habe eine gute Wohnung, gehe zur Schule. Habe Freunde. Mir geht es gut." Ich höre ihre Lachen und eine Träne läuft meine Wange hinunter. Ich vermisse sie.

„Ist die Verbindung sicher, nicht das dein -"

„Alles gut, ich habe ein Wegwerfhandy gekauft. Die Verbindung ist sicher", unterbreche ich sie.
„Ich kann leider nicht lange telefonieren. Aber ich liebe dich so sehr, ruf mich in ein paar Tagen nochmal an", sagt Mamá und ich muss leise aufschluchzen.
„Ich liebe dich auch, Mamá."

Forget meWhere stories live. Discover now