50. Kapitel

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Das Lied All I Want von Kodaline ist super schön und passt perfekt zum Kapitel. Hört es euch mal an :) (Ich hoffe man kann das Lied abspielen :))

***

Hailey

Vor einem Tag habe ich Rosies Grab auf dem Friedhof besucht. Kurz nachdem ich aufgewacht bin, bleibe ich in meinem warmen Bett liegen und starre die Decke an. Fast wie jeden Morgen frage ich mich, was London in diesem Moment wohl macht. Es hat sich zu einer komischen Tradition von mir entwickelt, dass ich mir immer vorm schlafen gehen und vorm aufstehen vorstelle, was London genau in diesem Moment macht. Genau jetzt. Vielleicht ist er eine Runde joggen. Oder er frühstückt mit Sydney. Ich kann es mir bildlich vorstellen, wie die beiden am Frühstückstisch sitzen, vielleicht ist Nate noch bei ihnen.

Mit diesem Bild im Kopf stehe ich auf und mache mich für einen weiteren anstrengenden Tag fertig. Nachdem ich mich angezogen habe, gehe ich in die Küche, wo ich auf Javier treffe.

Mein großer Bruder mustert mich kurz und nickt mir zu. „Morgen."
„Guten Morgen", sage ich und setze mich neben ihn an den Küchentisch. Hinter mir bereitet eine Angestellte gerade Frühstück vor und ich schenke mir eine Tasse Kaffee ein.
„Wie geht es dir?", frage ich Javier und bekomme einen leicht schrägen Blick von ihm.
„Wie es mir geht? Ganz gut, denke ich." Daraufhin folgt schweigen.

„Ich wollte dir noch erzählen, dass ich gestern bei Rosie war und ... und es hat mir irgendwie gut getan", murmle ich und frage mich, wieso ich es ihm überhaupt erzähle.
„Das ist – ähm – schön." Ein normales Gespräch klappt zwischen uns beiden noch nicht zu gut, wir stehen uns einfach nicht so besonders nah. Aber in mir ist in den letzten Tagen der Drang gewachsen, genau das zu ändern.

„Olivia?"

„Hm?"

„Ich weiß, dass du eigentlich nicht hier sein willst und ich wollte dich anfangs auch nicht hier haben, aber ich glaube ... ich glaube es ist gut das du hier bist. Mamá braucht dich", murmelt Javier und blickt bei seinen Worten jedoch nicht in meine Richtung. Für uns beide ist ein normale Gespräch Neuland.

„Danke ... das bedeutet mir viel."

„Ich habe dich nur mitgenommen, weil ... weil ich dachte, ich könnte so Vater glücklich machen. Es tut mir ...", er stutzt und rutscht unbehaglich auf seinem Stuhl hin und her.
„Ich weiß", sage ich schnell und lächle ihn an. Und ich weiß wie schwer es für Javier ist, mir zu sagen, dass es ihm Leid tut.
„Ich wollte ein wenig in die Stadt - willst du mit?", frage ich zögerlich.

„Nein, ich muss Vater bei Etwas geschäftlichen helfen", schlägt Javier meinen Vorschlag aus, fügt dann aber noch schnell hinzu, „aber danke für das Angebot."

Zusammen frühstücken wir und reden unter anderen über Tara. Javier versucht sie zu finden, um sich mit auszusprechen. Ich weiß, dass er viele Fehler gemacht, aber wie ich ihn einschätze, arbeitet er an sich. Und er will für sein Kind da sein.

Während wir über Tara reden, muss ich an London denken. Ein winziger Teil von mir hatte gehofft, dass er mich, wie in diesen kitschigen Büchern, aufsucht und mir seine Liebe gesteht. Aber jetzt sind drei Wochen vergangen. Und er ist nicht hier.

Ich habe ihm gesagt, er solle mich vergessen. Und meine größte Angst ist, dass er das in die Tat umgesetzt hat. Aber ich bin selber Schuld.

Ich habe es verhaut. Ich habe mich dazu entschieden, ihn zurückzulassen. Und ich glaube, das werde ich ewig bereuen.

Nach dem Frühstück mache ich mich dann auf den Weg in der Stadt.

Als ich die Haustür hinter mir schließe, muss ich mit einem Mal lächeln. Die Sonne scheint mir ins Gesicht und ein gutes Gefühl breitet sich in mir aus. Ich habe mich mit Javier ausgesprochen. Ich habe Rosies Grab besucht. Auch wenn die Umstände, wegen denen ich hier bin, nicht ideal sind, hat es auch sein Gutes. Und so stehe ich vor der Haustür, schließe die Augen und lasse die Sonne mein Gesicht wärmen. Und bin für einen winzigen Moment glücklich und frei. Jetzt brauche ich nur noch London und mein Leben wäre endlich ... schön.


London

Ich schwitze. Und bin verdammt nervös.
Der Flug verlief gut, aber ich konnte mich keine Sekunde entspannen. Was wird mich erwarten? Wird sie sich freue mich zu sehen? Oder nicht?

Ich bin dreimal fast wieder umgedreht. Alles in mir ist einfach nur unruhig und aufgeregt.
Mit meiner Reisetasche in der Hand, steige ich in ein vorfahrendes Taxi. Ich gebe dem Taxifahrer Haileys Adresse. Ich kann mich an den Namen Olivia einfach nicht gewöhnen. Er passt nicht zu ihr. Hailey wird für mich immer Hailey bleiben.

Nervös betrachte ich die vorbeiziehenden Häuser und versuche nicht zu sehr nachzudenken. Wenn ich zu genau darüber nachdenke, was ich hier mache, dann dreh ich vielleicht noch um. Ich streiche meine Haare zurück und schließe meine Augen.

So viele Fragen und Gefühle schwirren in meinem Kopf umher. Ich kann mich kaum konzentrieren.

„Wir sind da", sagt der Taxifahrer in Englisch, allerdings mit starken Akzent.
„Danke", sage ich und gebe ihm zu dem Fahrtgeld ein ordentliches Trinkgeld. Mit leicht zitternden Händen steige ich auf und sehe auf das große Haus an. Eins ist gleich klar – Haileys Familie hat nicht wenig Geld. Allerdings ist das Haus von außen nicht protzig oder so. Es ist einfach riesig.

Ich trete leicht zurück und betrachte die einzelnen Fenster. Ob sich hinter einen von den Fenstern Hailey aufhält? Völlig in Gedanken versunken stehe ich da und betrachte das Haus.

Plötzlich öffnet sich die Haustür und ich blinzle erstaunt. Hailey.

Sie sieht so verdammt schön aus wie immer und ich merke erst jetzt, wie sehr ich ihren Anblick vermisst habe. Sie zu sehen bringt mich mehr durcheinander als ich dachte.

Sie bleibt stehen und guckt, fast schon verträumt, in die Ferne. Woran sie wohl gerade denkt? Als ich mich traue auf sie zu zugehen, macht sie etwas, dass ich nicht erwartet habe. Sie lächelt. Und schließt ihre Augen.

Ich stoppe und betrachte sie. Hailey sieht glücklich aus. Und das ohne mich. Ich weiß nicht was ich genau dachte ... wahrscheinlich dachte ich das sie traurig wäre. Das sie mich vermissen würde.
Aber jetzt wo ich sie sehe, sieht so so glücklich aus. Kein bisschen traurig. Und in diesem Moment kommen meine Befürchtungen wieder auf. Ohne mich, ist sie glücklich. Es geht ihr gut und sie braucht mich nicht. In diesem Moment komme ich mir so dumm vor, wieso bin ich hier? Was habe ich mir dabei gedacht?
Ich schlucke und senke den Blick. Was dachte ich auch? Das sie hier sitzen würde und ... trauert? Nein, sie lebt ihr Leben weiter. Und das sollte ich auch machen. Sie so glücklich lächeln zu sehen, war wie ein Schlag in die Magengrube.

Kopfschüttelnd drehe ich mich und verfluche mich. Um ehrlich zu sein fühle ich mich miserabel.
Ich werde jetzt einfach gehen, am Flughafen den nächsten Flug nehmen und versuchen mein Leben ohne sie auf die Reihe zu kriegen.

Ich gehe.

Ich muss gehen.

Sie ist glücklich.

Und ich sollte auch versuchen, wieder glücklich zu sein.

Ohne Hailey ... ohne Olivia.

Und gerade als ich den einen Fuß vor den anderen setzte und mich zwinge mich nicht umzudrehe, höre ich eine Stimme, deren Klang ich so sehr vermisst habe.


„London? London ... bist du das?"

Forget meWhere stories live. Discover now