1.2. Damals (überarbeitet)

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MASON


Die Menge unter mir schreit so laut, dass ich das Dröhnen in meinen Ohren kaum wahrnehme. Ich sollte das hier genießen. Ich sollte genauso laut schreien, jubeln und in Euphorie verfallen, wie es der Rest hier im Club tut. Aber was mache ich? Ich stehe wie betäubt auf meinem Platz und umklammere das Mikro mit schweißfeuchten Händen. Statt mich wie ein Rockstar im Scheinwerferlicht zu sonnen, fühle ich mich wie ein Reh, das kurz davor ist, die Windschutzscheibe eines Autos zu küssen. Scheiße. Ich sollte überhaupt nicht hier sein.

„Mase."

Shane legt mir seine Hand auf die Schulter und dreht mich mit festem Griff vom Publikum weg, damit ich ihn ansehe. Die Menge hinter mir ruft unsere Namen, doch die Jungs lassen sich nicht stören. Luke und Dave gehen nach vorne, dorthin, wo eigentlich ich stehen sollte, und spielen ein paar Akkorde. Das Publikum schreit begeistert und ich kann meinen Namen als Rauschen in der Menge hören. Er klingt wie eine Aufforderung. Sie wollen mich. Jetzt. Doch je lauter sie schreien, desto fester scheinen sich meine Muskeln zu verkrampfen.

Ich sollte nicht hier sein.

„Mase." Shane versucht wieder meine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. „Alter, sieh mich an."

Er zieht mich in den hinteren Bereich der Bühne, damit Luke und Dave im Frontbereich eine kleine Show abziehen können, um das Publikum bei Laune zu halten. Und es funktioniert. Luke spielt die Leadgitarre, als hätte er noch nie etwas anderes getan. Was auch der Fall ist. Und Dave ist unschlagbar am Bass. Die Töne, die er dem Instrument entlockt, können andere nicht einmal in ihren wildesten Träumen nachmachen.

„Mase!"

Ich sehe Shane ins Gesicht und zucke bei dem mitleidigen Blick zurück, den er mir entgegenwirft. Seit die Sache mit Emmas Eltern passiert ist, sehen mich alle so an. Ich kann es nicht mehr ertragen. Am liebsten würde ich ihm den Ausdruck aus dem Gesicht schlagen. Doch ich halte mich zurück. Er kann schließlich nichts dafür, dass ich mich fühle, als hätte man mir einen Arm abgetrennt.

„Alter, du musst das in den Griff kriegen." In den Griff kriegen? Als wenn das so einfach wäre. „Ich weiß, die Situation ist scheiße." Er seufzt und streicht sich die schwarzen Haare aus der Stirn. „Ich weiß das, okay? Aber du musst dich zusammenreißen, Mann. Wir haben monatelang auf diese Chance gewartet und werden das jetzt durchziehen. Du liebst die Bühne, Mann! Lass dir das nicht kaputtmachen von – "

Ihr.

Shane spricht ihren Namen nicht aus und ich bin dankbar dafür. Ich glaube nicht, dass ich mich zusammenreißen könnte, wenn ich ihren Namen höre.

Aber Shane hat recht. Ich liebe die Bühne. Liebe das Gefühl, dort oben zu stehen und das Publikum zu begeistern. Ich liebe es, wenn sie meine Songs mitsingen und nach Zugaben kreischen.

Aber welchen Sinn hat das noch?

Denn am meisten liebe ich es, wenn sie begeistert kreischt. Wenn sie nach Zugaben schreit und mich am Ende eines Auftritts wie ein Oktopus umarmt und nicht mehr loslassen will, selbst wenn ich total verschwitzt bin.

„Ich bin noch nie ohne sie aufgetreten", sage ich leise und hasse mich in diesem Moment für meine Schwäche.

Aber sie war einfach immer da. Seit dem ersten Mal war sie an meiner Seite. Ich weiß nicht, ob ich es auch ohne sie kann. Ob ich es ohne sie überhaupt will. Ihr hasserfüllter Blick nach der Gerichtsverhandlung verfolgt mich in meinen Albträumen.

„Keiner von uns ist bisher ohne sie aufgetreten", schnaubt er. In seinen dunkelblauen Augen blitzt es wütend. „Die Sache ist nicht deine schuld, Mann. Sie wird das schon noch begreifen."

Wird sie nicht. Denn was Shane nicht begreift, ist, dass es sehr wohl meine schuld ist. Vielleicht nicht alles, aber immerhin genug, um mir als Strafe meine beste Freundin zu nehmen.

„Mase." Shane stößt mir einen seiner Drumsticks in die Schulter. „Wir rocken das hier, klar? Einem Rockstar kann niemand widerstehen. Wenn wir erst einmal diesen Vertrag in der Tasche haben, ändert sich alles. Dann werden die Karten neu gemischt."

Hinter uns wird die Menge langsam unruhig. Sie verlangen eine Show. Verlangen die Show. Mein Name geht als Raunen durch die Menge. Luke und Dave drehen sich zu uns um und sehen erwartungsvoll zu mir. Sie machen den Platz am Mikrofon frei und das Publikum schreit johlend auf. Shane gibt mir einen Schubs und ich stolpere nach vorne. Langsam trete ich wieder ans Mikro und blinzle ins Scheinwerferlicht. Die Menge vor mir verschwimmt zu einem Meer von dunklen Umrissen, was es mir leichter macht, mich auf die Musik zu konzentrieren. Denn genau das werde ich jetzt tun. Musik machen. Alles andere vergessen.

Sie vergessen.

Wenigstens für ein paar Minuten.

Als ich jetzt ganz vorne auf der Bühne stehe, gebe ich den Jungs mit einem Kopfnicken zu verstehen, dass ich bereit bin. Shane beginnt mit einem Intro am Schlagzeug.

Ich kann das.

Ich atme tief ein und schließe die Augen, lasse mich völlig auf die Musik ein. Als die ersten Töne von Lukes Gitarre erklingen, haben sich meine Nerven beruhigt und ich öffne die Augen. Das ist es. Der Moment, auf den wir so lange gewartet haben. Ich kann die Typen von Heartbeat-Records zwar nicht sehen, aber ich weiß, dass sie da sind. Immerhin veranstalten wir den Zirkus hier nur ihretwegen.

Ich lächle und die Menge kreischt auf. Sie lieben es, wenn ich das tue. Sobald die ersten Töne meinen Mund verlassen haben, gehe ich völlig in dem Song auf. Ich lasse all meinen Frust, meine Unsicherheit und meine Wut hinaus und weiß, dass wir es geschafft haben. Ab jetzt wird alles besser und ich weiß eines mit Sicherheit: Die Karten werden neu gemischt. 

Stuck In Your Head! *pausiert*Where stories live. Discover now