19.1. Heute (überarbeitet)

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Emma

Ich kann mich nicht daran erinnern, je so viele Menschen in einem Raum gesehen zu haben. Wie Sardinen in einer Dose eingezwängt, fast Schulter an Schulter, stehen die Leute vor der Bühne, um einen Blick auf ihre Idole werfen zu können. Es scheint auch niemanden zu stören, dass er quasi mit seinem Nachbarn verschmilzt. Im Gegenteil, die Leute genießen es. Jedenfalls sieht es von meinem Platz hinter der Bühne so aus.

Vorfreude und Spannung schwingen wie Wellen durch den Konzertsaal. Aufgeregtes Stimmengewirr vor und hinter der Bühne dringt zu mir durch und ich kann nicht anders als das erwartungsvolle Kribbeln aufzuschnappen und es in vollen Zügen zu genießen. Ich hatte völlig vergessen wie gut man sich kurz vor einem Auftritt fühlt. Vor dem Eingang steht immer noch eine lange Schlange, obwohl das Konzert in wenigen Minuten anfängt. Die meisten Fans sind Frauen und ich muss das eine oder andere Mal die Augen verdrehen als ich mir die knappen Outfits ansehe, mit denen diese Mädchen versuchen, auf sich aufmerksam zu machen.

Hinter der Bühne drängen und rangeln die Roadies, um das Equipment für den Auftritt bereit zu machen und alles noch einmal zu überprüfen. Es ist Wahnsinn. Ich habe früher jeden Auftritt von Mason und den Jungs gesehen, war bei jedem noch so kleinen Gig dabei und habe auch schon selbst dabei geholfen, die Instrumente anzuschließen oder das Licht überprüft. Aber wenn ich mir das Ausmaß des heutigen Konzertes ansehe, bin ich überwältigt. Mir wird erst jetzt richtig bewusst, dass Stuck In Your Head! keine Kleinstadtband mehr ist. Sie üben nicht mehr in Masons Garage mit gebrauchten Instrumenten und schlecht eingestellten Verstärkern. Ihre Auftritte sind mehr als nur Zufallsgigs im Frankies, wo sie aufpassen mussten, nicht aus dem Club zu fliegen, weil sie unter einundzwanzig sind. Jetzt haben sie Roadies, Manager und Security, die dafür sorgen, dass das Konzert reibungslos abläuft. Sie sind eindeutig nicht mehr die Jungs von Staten Island.

»Mason, ich liebe dich!«

»Shane, du bist so heiß!«

»Ich trage kein Höschen, Luke!«

»David, du bist der Schärfste!!!«

»Bitte nimm mich!«

Die Rufe aus dem Publikum werden immer lauter und unanständiger. Vorhin hat eine Frau sogar ihre Unterwäsche auf die Bühne geworfen und wollte sich entblößen. Die Security war gerade noch rechtzeitig da, um sie davon abzuhalten. Eine andere Frau brüllte so laut, was sie alles mit ihrem Mund anstellen kann, dass ich mir fast die Ohren abriss, um mir das nicht mehr anhören zu müssen.

Es ist einfach irre.

»Das ist Wahnsinn, oder?«, fragt Raven neben mir aufgeregt.

Seit wir die Wohnung verlassen haben, weicht sie nicht von meiner Seite und quetscht mich geradezu nach Informationen über meine Kindheit aus. Entweder will sie einen Beweis dafür, dass ich tatsächlich ehrlich zu ihr bin oder sie stellt mir alle Fragen, die sie sich während der letzten drei Wochen wegen unseren Streits verkneifen musste. Ich vermute eher letzteres, da ich Raven und ihre chronische Neugierde kenne. Ich kann ihr ansehen, dass sie immer noch tausend Fragen über mich und die Jungs hat und ich bin bereit, ihr alle Antworten zu geben. Das ist das Mindeste, nachdem ich mit meinem Schweigen beinahe unsere Freundschaft zerstört hätte.

Ich sehe mir wieder die verrückten Fans vor der Bühne an. Weit und breit nur nackte Haut und wenn man den Berg an Slips und BHs auf der Bühne betrachtet, tragen die Mädels auch unter ihren knappen Outfits nicht mehr viel. Was glauben sie, was sie mit diesem Aufzug erreichen? Etwa, dass die Jungs von der Bühne springen und sie sofort ins Schlafzimmer zerren?

Vielleicht tun sie das ja auch.

Wenn ich an die Konzerte im Gravity denke und daran, was ich dort schon alles mit den Musikern erlebt habe, kann es durchaus sein, dass die Jungs ihre Auftritte ähnlich handhaben. Da fällt mir die Geschichte von Luke, den Zwillingen und der Posaune ein und ich frage mich, ob die anderen auch solche Erfahrungen gesammelt haben.

Stuck In Your Head! *pausiert*Where stories live. Discover now