18. Damals (überarbeitet)

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Mason

„Was ist mit ihr?" Emma zeigt auf eine blonde Frau mittleren Alters in einem grauen Businesskostüm. „Was glaubst du, woher sie kommt?"

Gute Frage. Mit dem Businessoutfit sieht sie aus wie eine Anwältin, aber ihre zerzausten Haare und die schäbige Aktentasche lassen mich daran zweifeln. Studentin? Oder vielleicht Praktikantin? Nein, dafür scheint sie mir zu alt zu sein.

„Na, gibst du schon auf?", spottet Emma neben mir und stupst mir kichernd ihren Ellbogen in die Seite.

Wir sitzen zusammen auf der Ladefläche meines alten Trucks und beobachten die Leute, die in regelmäßigen Abständen von der Staten Island Fähre kommen. Der kalte Wind treibt viele Menschen in die Hafencafés, doch Emma und ich trotzen der Kälte mit Strickmützen und Hoodies. Wenn ich sehe, wie eng sie sich an mich kuschelt, um sich aufzuwärmen, dann kann ich nur sagen: Beste Idee, ever!

„Ich gebe nicht auf", antworte ich verzögert, etwas abgelenkt von ihrer Nähe und dem verführerischen Honig-Jasim Duft, der sie ständig umgibt.

Dieses Spiel haben wir uns von einigen Jahren ausgedacht, als eine Touristengruppe mit Führer von der Fähre kam und Emma unbedingt wissen wollte, woher die Menschen stammen. Da ihr niemand eine Antwort gab, dachten wir uns selbst die wildesten Geschichten über die Leute aus. Plötzlich wurde aus einem finster dreinblickenden Mann ein Geheimagent, aus einem kleinen Mädchen wurde ein tragisches Waisenkind und eine kleine alte Frau sah für uns wie eine Märchenhexe aus. Das Spiel machte so viel Spaß, dass wir seitdem regelmäßig hierherkommen, um die Leute von der Fähre zu beobachten.

„Hast du vor, mir heute noch eine Antwort zu geben?", fragt Emma mit einem siegessicheren Grinsen. Sie liegt zwei Punkte in Führung und wenn meine Geschichte dieses Mal nicht außergewöhnlich oder wenigstens logisch ist gewinnt sie. Das kann ich nicht zulassen, denn Emma ist eine wahnsinnig miese Gewinnerin. Sie ist schadenfroh und rechthaberisch und prahlt noch Tage danach mit ihrem Sieg. In diesem Punkt ist sie Luke viel zu ähnlich, der ebenfalls ein echt fieser Gewinner ist. Um mir ihren schadenfrohen Siegestanz zu ersparen, sehe ich mir die Frau noch einmal genau an.

„Brooklyn", sage ich dann überzeugt und grinse zufrieden, als ich Emmas Gesicht betrachte. Sie wirkt überrascht.

„Wie kommst du auf Brooklyn?", will sie wissen und lehnt sich auf der Ladefläche zurück, um mich besser ansehen zu können. „Ich hätte auf Manhattan getippt."

„Manhattan? Ich dachte, du wärst Profi." Ich schüttle gespielt enttäuscht den Kopf. „Wenn du das Spiel nicht ernst nimmst, hat das keinen Sinn, Emma."

Sie kneift drohend die Augen zusammen. Ich kann ihr ansehen, dass sie mir ihren führenden Punktestand vorhalten will, doch erstaunlicherweise hält sie sich zurück. Stattdessen lehnt sie sich wieder an mich und seufzt gespielt ergeben.

„Dann verrate mir bitte – oh weiser Meister – wie kommst du auf Brooklyn?"

„Ihre Aktentasche", erkläre ich und versuche das prickelnde Gefühl zu ignorieren, das jedes Mal einsetzt, wenn sie mir so nahe ist. „Sie passt nicht zum Rest von ihr. Mal ganz abgesehen von ihren Haaren."

„Die könnten auch vom Wind zerzaust sein", hält sie dagegen.

„Das glaube ich nicht. Von den anderen Passagieren sieht niemand so zerzaust aus."

„Und was lässt dich annehmen, dass sie aus Brooklyn und nicht aus Manhattan kommt?"

„Ich denke, dass sie in Manhattan arbeitet, aber in Brooklyn lebt, weil die Miete dort günstiger ist. Vermutlich arbeitet sie in einem Anwaltsbüro und ist geschäftlich hier. Sie wird abgeholt, aber die Person ist spät dran. Siehst du, wie sie ständig auf die Uhr starrt und dann genervt die Luft ausstößt? Ich schätze, dass sie einen Assistentenjob hat und nicht zum ersten Mal für ihren Boss die Drecksarbeit erledigt, für die er sich zu schade ist."

Stuck In Your Head! *pausiert*Where stories live. Discover now