Prolog: Der Beobachter

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Er öffnet die Tür der abgedunkelten Kutsche und schiebt mich hinaus in die wolkenverhangene Nacht. Während seine namenlosen Gesellen mit dem Gepäck durch den pompösen Haupteingang verschwinden, führt mein Weg zur trostlosen, geheimen Passage auf der anderen Seite. Seine ruppige Hand krallt sich in meine Schulter und steuert mich hinab, dann geradeaus bis zu einer im Schatten kauernden Tür, die ihr splittriges Holzgesicht hinter einem Spinnwebenschleier verbirgt. Er drängt an mir vorbei, dreht den Schlüssel im Schloss und betritt den Raum. Elektrisches Licht flammt auf, heller als ich es gewohnt bin und kälter als der flackernde Kerzenschein. Zunächst wirkt alles verschwommen, dann schälen sich ein Schreibtisch, Computer, mehrere Monitore, ein schmales Bett und zwei weitere Türen aus dem flimmernden Licht. Bis auf die technischen Spielereien, die bestimmt nicht zu meinem Vergnügen hereingeschafft wurden, ist diese Zelle genauso karg wie jene, die ich erst vor wenigen Stunden verlassen habe.

„Gewöhn dich ein", befiehlt mein Vormund. Ich drehe mich zu ihm. Nachdenklich aber weniger grimmig als sonst fixiert er mich von oben.

„Ja, ich denke, dies ist ein passender Zeitpunkt", murmelt er. Ich bilde mir ein, in seinen Augenwinkeln einen Anflug freundlicher Grübchen zu entdecken. Aber das liegt sicherlich an der Müdigkeit und dem ungewohnten Licht. Eine Hand umklammert die Stuhllehne, die andere schwebt über der Tastatur. Langsam streckt er einen Finger aus und fährt die Spalten zwischen den einzelnen Buchstaben nach. „Hiermit gebe ich dir die Möglichkeit, die Sünde zu bereinigen, in der du geboren wurdest und dir einen Namen zu verdienen. Kleide die Wahrheit in das Gewand der Geschichte, dann empfange deinen Lohn."

Der Anflug nahezu weichherziger Güte verfliegt so schnell, wie er gekommen ist. Schon ist er wieder steinhart und seine Geringschätzung durchspült mich eiswässrig. Ohne ein weiteres Wort lässt er mich in meiner neuen Gruft zurück. Während ich mein spärliches Gut verteile, stolpere ich mal wieder über die ewige Frage nach dem Grund. Mein Vormund hat mir viele davon eingehämmert, keiner irgendwie zufriedenstellend. Er hat mir meine Herkunft, meine Vergangenheit, meine unverschuldeten Verfehlungen in bitteren Dosen eingetrichtert, deren übler Nachgeschmack nicht einmal durch den honigsüßesten Tagtraum überdeckt wird. Ich lenke mich ab und beginne einen Streifzug durch die angrenzenden Räume. Dann kehre ich zurück und warte darauf, dass es beginnt. Zeit vergeht, die Uhr behauptet, es seien vier Stunden gewesen.

Schließlich öffnet sich die Tür. Der Laufbursche tritt ungefragt ein, legt ein Päckchen mit einer knappen Notiz auf den Tisch und verschwindet wortlos. Ich überfliege die krakelige Handschrift und seufze, während ich den Computer hochfahre. Wie erwartet schält sich eine Festplatte aus der Verpackung. Mit Sicherheit befinden sich darauf bereits das Dokument mit Richtlinien, Hintergrundinformationen, Karten, Kontaktdaten und das Skript.

„Es beginnt also", teile ich dem brummenden Rechner mit. Unwille regt sich, als ich die Festplatte anschließe und den Ordner mit dem Namen „Justice" öffne. Meine Aufgabe besteht darin, seine wahren Erlebnisse festzuhalten, seine Wahrheit zu dokumentieren. Der zaghafte Spross einer Rebellion regt sich, angestachelt durch einen Funken Stolz, der mir eigentlich gründlich ausgetrieben worden ist.

Meine Hand schwitzt, als ich mit der Maus ein weiteres Dokument im Schreibprogramm öffne. Hier werde ich meine Wahrheit festhalten, nicht seine. Schwarz auf weiß werde ich dokumentieren, was geschieht: ohne die befohlenen Interpretationen, ohne vorgekaute Gedanken und den bereits ausgelegten roten Faden. In diesem Bericht will ich ihnen folgen, nicht vorauseilen, ihnen zuhören ohne die Bedeutung ihrer Worte schon vorher festzunageln. Der Computer gibt einen kurzen Pling-Laut von sich. Soeben ist die erste Information in meinem Mailfach eingegangen. Der Absender sitzt unerkannt im Regierungsgebäude und berichtet, dass der Unheilsbringer sich endlich an die Regierung gewandt hat und Unterstützung fordert. Die Jagd beginnt also im Herzen der Wallstadt Cruk, wo die Sekretärin ihren persönlichen Assistenten aussuchen und einschleusen wird. Kopfschüttelnd tippe ich die Informationen ab. Eigentlich hätte längst die Polizei das Kommando übernehmen müssen, doch unser Schirmherr, der Gönner meines Vormunds, der finstere Erzähler scheint seine Finger überall zu haben.

Das andere Dokument schimmert noch unbeschrieben. Kurz werfe ich einen Blick über die Schulter, die Türe bleibt starr geschlossen. Wie fange ich an? Es fällt schwer, die eingetrichterten, vorgebeteten Urteile über den abtrünnigen Pfarrer nach hinten zu schieben, vor allem weil ich angeblich der lebende Beweis für seinen Verrat bin.

„Die Suche nach der Wahrheit, nach Gut und Böse begann im Kopf eines Kindes, das nicht existieren durfte. Gezeugt durch einen angeblichen Teufelsanhänger, aufgezogen von einem kalten Gottesmann, verfolgte es jeden Schritt des vermutlichen Vaters, in der Hoffnung, dass seine Worte und Taten das Chaos ordneten..."

Versonnen trippeln meine Finger auf den Tasten. Ein ehrlicher Anfang muss auch die eigenen Unzulänglichkeiten offenlegen. Ein Geräusch überfällt mich rücklinks, der Drehstuhl wird herumgerissen, knallende Schmerzen brennen auf meiner Wange und ziehen in den Kiefer. Die Wucht schleudert meinen Kopf zur Seite.

„Der Verrat steckt wohl in den Genen!", stellt mein Vormund fest, streichelt bedächtig seinen Handrücken und mustert mich mit einer grimmigen Befriedigung, als sähe er all seine Verdächtigungen bestätigt. Ich weiß, was er erwartet.

„Meister", flüstere ich mühsam durch die anschwellende Wange, weil er es erwartet, „ich habe gesündigt und möchte beichten." Gleichzeitig lösche ich meine Rebellion von der Festplatte, nicht dass es ihn irgendwie freundlicher stimmen oder meine Strafe mildern würde. Zumindest wird es noch Schlimmeres verhindern. So endet also die kurze Freiheitsbewegung des Balgs niedergeschlagen zu Füßen des Weltretters. Zumindest vorerst...

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