Zwischenspiel: Menschenschach

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„Und warum nehmt ihr mich dann überhaupt mit, wenn ihr glaubt, dass ich ein Verräter bin?", fauchte Ronen

„Besser den Spatz in der Hand

als die Taube auf dem Dach.

Halt den Feind fest am Halsband

Sonst droht böse Schmach", sang Mephisto und köpfte mit demonstrativer Brutalität eine Karotte. Nigel grinste selbstgefällig und klopfte Ronen jovial auf die Schulter. „Sauber, Dude! Jetzt stehen wir auf der gleichen Stufe in der Beliebtheitsskala." Von den Frauen kam kein Ton. Es schien, als wollten sie sich aus den verbalen Rangkämpfen heraushalten. Stattdessen holten Henrike und Vren weitere Sitzgelegenheiten heran, damit alle im Kreis Platz fanden und verteilten Getränke, während Mephisto der Suppe kräftig einheizte und es sich nicht verkneifen konnte, die Zutaten mit finsteren Gesängen zu verfluchen. Hin und wieder kicherte er beim Würzen. Kurz darauf hörte man ihn gackern und immer wieder mit der flachen Hand auf die Arbeitsplatte schlagen. Geschüttelt von Lachkrämpfen und mit Tränen in den Augen prustete er:

„Das Gemüse wird gefoltert

im Höllenkessel gar blanchiert.

Das Fleisch, es schmort im Höllenofen

und wird dann von mir tranchiert!"

Es dauerte eine Weile, bis er sich keuchend vom Küchenboden aufrappeln und das Essen servieren konnte. Während ihre Gäste herzhaft zugriffen, erzählte Vren wie sich ihre Wege und die der Morderzähler gekreuzt hatten.

Meine erste Begegnung mit den Morderzählern war kurioser Art. Dazu müsst ihr wissen, dass ich eine begeisterte Schachspielerin bin. Im Menschenschach – dessen Entstehungsgeschichte hier zu lange dauern würde – kommt es nicht nur auf taktisches Geschick an, sondern bisweilen auch auf die Nahkampffähigkeiten der Spieler. Während der letzten Vorbereitungen meines Vereins auf die großen Meisterschaften in Cess, der Hafenstadt im Nordosten, erreichte mich eine Nachricht aus der Nachbarschaft. Ein befreundeter Läufer bat mich, dem letzten Ausscheidungsspiel zweier rivalisierender Mannschaften als zusätzliche Schiedsrichterin beizuwohnen. Man zweifelte an der Fairness des Gegners. In der Vorgeschichte hatten einige Manipulationsversuche zu Magenverstimmungen, Übermüdung und Koordinationsproblemen geführt. Da unser Platz in der Meisterschaft gesichert war, nahm ich die Einladung guten Gewissens an. Alles Weitere konnte ich meinem König überlassen.

Hier ist wahrscheinlich Erklärungsbedarf. Menschenschach folgt besonderen Regeln. Die Zugmöglichkeiten sind dieselben wie bei Figurenschach, aber jede Figur wird von einem Menschen gespielt. Zieht nun jemand auf ein vom Gegner besetztes Feld wird über einen Kampf entschieden, wer geschlagen wird. Derjenige, der aufgibt, das Feld verlässt, kampfunfähig ist oder vom Schiedsrichter aus dem Spiel genommen wird, hat verloren. Die Spielleiter, das sind meistens die Damen- und Königsfiguren, müssen also nicht nur einen Weg suchen, so viele Figuren wie möglich in die Enge zu treiben. Sie müssen zusätzlich abwägen, welche Chancen die jeweilige Figur im Ringkampf hat.

Die Figuren, die kampfunfähig sind, können in der Regel problemlos beim nächsten Spiel wieder einsteigen. Das gilt nicht für König und Dame bei wichtigen Entscheidungsschlachten. Sie stehen nun als geschlagene Regenten vor der Wahl ins Exil zu gehen, also nie wieder eine Partie zu spielen oder im übertragenen Sinne zu sterben. Das bedeutet, dass sie in die Totenstadt reisen, ihre Identität ablegen und als einfache Bauern wiederkehren. In dem Fall haben sie die Möglichkeit sich wieder hochzuspielen.

Als mich mein Freund der Läufer begrüßte, bezogen die Figuren bereits Aufstellung. Die beiden Spielleiterpaare und Schiedsrichter wurden einander vorgestellt. Die des gegnerischen Teams kamen mir äußerst unbekannt vor. Auch stand ihnen bereits die Aufregung ins Gesicht geschrieben, obwohl noch kein Zug getan war. Ich machte es mir auf dem Hochsitz am Spielfeldrand bequem, zu meiner Linken die weiße Gastmannschaft, zu meiner Rechten die Figuren des befreundeten Vereins, die noch ein paar Scherze von sich gaben. Ich suchte die Reihen nach neuen Gesichtern ab, die meistens bei den Bauern zu finden waren, den undankbarsten aller Positionen. Die rieben sich nervös die Hände, wärmten sich schon einmal auf.

Weiß eröffnete mit dem Königsbauern. Das Spiel nahm seinen Lauf. Ein lausbübischer Bauernjunge aus den schwarzen Reihen zeigte bemerkenswertes Talent darin, den breitschultrigen Bauern, der ihn schnappen wollte, aus dem Feld stolpern zu lassen und ihn so aus dem Spiel zu befördern. Der weiße König reagierte mit einem nervösen Blick über die Zuschauermenge hinweg zu einem unbestimmten Punkt. Schließlich wurde es der Dame neben ihm zu bunt, als eine schwarze Läuferin sich frech durch ihre Reihen schlängelte und sich vor ihr aufbaute, um dem König Schach zu bieten. Die Monarchin stapfte entschlossen auf das schwarze Feld der Eindringenden, packte die Hand, die zu einer Maulschelle ausholte, und verdrehte ihr den Arm. Doch die Läuferin war flink, drehte sich heraus und wollte sich losreißen. Mit aller Macht zog die Königin die Gegnerin heran und platzierte ihren Fuß in der Magengrube, gerade so fest, dass sie keuchend zu Boden sank. Ich hob sofort die rote Flagge, gleichzeitig mit meinem Kollegen. Man holte die Läuferin vom Platz und wartete, dass das Spiel wieder freigegeben wurde.

Nun hüpfte der schwarze Springer in Richtung des weißen Königs. Es war ein etwas dicklicher Kerl, den ich schon oft kämpfen gesehen habe. Obwohl er sich langsam bewegte, brachte er die meisten Gegner souverän zu Boden. Die Königin atmete noch einmal tief durch und begab sich in Kampfstellung. Schläge und Tritte hagelten nun auf den Springer ein, doch der blockte und ließ sie scheinbar wirkungslos abprallen. Er schlurfte nah an seine Gegnerin heran, umfasste mit seinen Pranken die Oberarme der Lady und hob sie seelenruhig hoch. Gemütlich marschierte er an den Rand des Felds und setzte seine Fracht mit einem sanften Lächeln im Aus ab. Die weiße Dame war geschlagen, der König schachmatt.

Beide schienen es sich arg zu Herzen zu nehmen. „Bitte, wir wollen nicht sterben!", riefen sie lauthals, voller Panik. Ich kletterte von meinem Hochsitz. Wollte ihnen erklären, dass sie ja noch das Exil wählen konnten, als zwei Flugobjekte knapp an mir vorbeirasten und in den Hälsen der Ex-Spielleiter stecken blieben. Bevor jemand an Dame und König herankam, waren sie schon zusammengebrochen. Tot. Vergiftet. Wochenlang ermittelten wir ohne Ergebnis. Wir taten uns mit Dörfern zusammen, die ebenfalls sonderliche Todesfälle zu beklagen hatten. Schließlich hörte ich von einem Fall, der sich an einem eigentlich untypischen Ort ereignet hatte: In der Nähe der Totenstadt. Ein frisch auferstandener Freund von mir berichtete brühwarm von zwei toten Männern und einem blauhaarigen Mädchen. Ich beschloss die nächste Gelegenheit zu nutzen und diese Spur zu verfolgen. In der darauffolgenden Partie opferte sich die legendäre „Grande Dame", wie man mich schmeichelhaft nennt, die nie einen Kampf, geschweige denn eine Partie verloren hatte und wählte den „Tod". Die Leute gafften ziemlich ungläubig, als ich ohne Umschweife meine Abreise zur Totenstadt verkündete.

Am Haupttor zur Unterwelt schien man mir jedoch den Eingang verwehren zu wollen. Zum Glück wussten diese Banausen nicht, dass sie die Grande Dame vor sich hatten und als ich ihnen eine unscheinbare Identität nannte, ließen sie mich ein. Keine Sekunde zu früh, denn die Totenstadt traf bereits alle Vorbereitungen sich vom Rest der Unterwelt abzuschotten. Sie hatten schon länger vom Verschwinden des Erbauers der Totenwelt gehört. Es fiel ihnen schwer den Neuigkeiten über den neuen Herrscher Glauben zu schenken. Galt er doch als guter Gottesmann, der Priester, der sich allen mit dem Namen Renoir vorstellte. Doch als ich diesem Herrn dann begegnete, flüchtig nur, und er mich nicht erkannte und auch nicht so recht wie der Renoir aussah, der mich einst von einer schlimmen Grippe befreit hatte, ahnte ich, wie der Hase lief."


FederlesenWhere stories live. Discover now