Der Beobachter...

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Unschlüssig verfolge ich nun seine Schritte, werfe nervöse Blicke auf Nigel und Ronen, die noch weit hinter ihm liegen. In den Privaträumen meines Vormundes gibt es keine Kameras. Ich kann nicht sagen, was er dort macht, wann er herauskommt oder ob er bereits von dem Vorrücken weiß. Je näher der Höhepunkt rückt, je entscheidender jede Information wird und je mehr ich ihm vorenthalte, desto heftiger plagt mich mein Gewissen.

Mein Posteingangsfach tönt mit penetranter Ausdauer. Angestrengt kneife ich die Augen zusammen. Die Nachricht stammt von ihm. Er fordert unverzüglich einen Lagebericht. Seine Aktion, die Totenstadt im Schlaf zu überfallen, ist aufgeflogen. Wie das geschehen konnte? Die Tore, vor denen die lästigen, gegnerischen Spezialtruppen lauerten, seien nicht verriegelt gewesen. Warum die elektronische Sperre nicht aktiviert worden sei? Man habe Renoir soeben im großen Saal aufgegriffen.

Angst! Hastig überfliege ich noch einmal die Monitore. Der Priester ist umstellt, auf verlorenem Posten eingekreist. Die erhobene Waffe wird ihm aus der Hand gerissen. Ein Tritt in die Kniekehle und ein weiterer in die Magengrube lassen ihn zu Boden gehen. Es schmerzt. Ich erhasche einen kurzen Blick auf den Bezirk nahe der Totenstadt. Vren führt Ylaine, Mephisto und Faust her, gefolgt von den vermummten Gestalten, die ich schon von Cruk kenne. Ganz in der Nähe höre ich Schritte. Abseits von den hellen Bildschirmen versuche ich die verschwommenen Umrisse der Tür auszumachen. Meine Ohren schätzen, dass mir noch drei Minuten bleiben. Ich raffe Manuskripte zusammen, schnappe mir die summende externe Festplatte und ramme meine Faust gegen den Notausschalter.

Ganz gleich wer sich nähert; heute werde ich keine wohlgesonnene Seele in diesen Räumen finden. Ich taste mich zum zweiten Ausgang. Er führt auf den oberen Rundgang des großen Saals. Mit etwas Glück bricht dort gleich genug Chaos aus, um unbemerkt zu bleiben. Keuchend und blind steige ich die Treppe hinauf. Hinter mir stolpern Personen fluchend über all die Dinge, die ich zu Boden gerissen habe. Endlich erkennen meine Hände die Türklinke. Geduckt quetsche ich mich durch den Türspalt, verharre kurz. Meine Augen gewöhnen sich nur langsam an das Licht. Ich muss mit den Fingern nach dem Schlüsselloch suchen und den Schlüssel umdrehen. Nach der Abgeschiedenheit meines Arbeitszimmers, in dem mich in der Regel nur das Summen der Elektronik begleitet hat, überschwemmt mich Lärm. Die Stimme meines Vormundes, die einzige die ich jahrelang vernommen habe, verlangt Ruhe. Verborgen vor den Blicken der Leute unter mir beobachte ich. Wenigstens das bin ich ihnen schuldig. Wenigstens das Ende der Geschichte muss ich mit meinen eigenen schwachen Augen sehen, mit meinen eigenen Ohren hören und zum ersten Mal selbst empfinden. Ein Flüstern füllt die Stille. „Simon!" Renoir hat das Wort ergriffen. Mühsam setzt er sich auf, verharrt und hält sich weiterhin die bestimmt schmerzende Magengrube. Sein Hut liegt einige Meter entfernt. Das schwarze Haar mit den vielen grauen Strähnen klebt verschwitzt an seinem Kopf. Wie ähnlich sie einander sehen. „Du bist mir eine Erklärung schuldig, mein Freund. Ich habe das Versteckspiel satt."

Es dauert eine Weile bis Simon, der zweite Telling, mein Mentor antwortet. Der herablassende Ton, der normalerweise jeden seiner Sätze begleitet, ist purem, destilliertem Hass gewichen. „Die will ich dir geben. Aber es enttäuscht mich, dass du deine Sünden nicht selbst eingestehst."

„Nun lass den Quatsch beiseite, ich habe nie - " Mit einem Schmerzschrei kippt Renoir abermals zu Boden und ringt nach Luft. Mein Vormund setzt den Fuß, mit dem er gegen die Brust des Inquisitors getreten hat, auf den Oberkörper und beugt sich tief hinab, während er Renoirs Kehle umschließt und ihn so endgültig gegen den kühlen Stein presst. „Leugne nicht, du Verräter an Gott. Ein Gutes hat es immerhin, dass du das Balg mit der Teufelshure gezeugt hast: Jetzt weiß ich, dass die Dreieinigkeit keine Macht mehr hat über diesen dreckigen Planeten, dass es an uns ist, die Flamme der Tugend zu schützen und die Sünder zu bestrafen!"

Mein Vormund richtet sich auf und stemmt sich hoch. Dadurch treibt es dem Priester erneut die Luft aus den Lungen. „Ich weiß nicht", keucht er, „was du meinst." Die Spannung entzieht meinen Muskeln alle Kraft. Selbst wenn ich wollte, könnte ich mich keinen Millimeter fortbewegen. Er bestreitet es immer noch, verleugnet sein Kind, meine Existenz.

„Das Balg hat deine dreckigen Augen und sogar deinen hässlichen langen Zinken! Wie kann es nicht deines sein!", brüllt Simon. Die Wut macht ihn noch blasser. Vorsichtig rücke ich näher an das Geländer, um das Gesicht meines Vaters genauer zu sehen. Zunächst verweilt sein Ausdruck in weiter Ferne, als suche er mühsam nach einem Anhaltspunkt. Dann lacht er. Es ist vielmehr ein Keuchen und er hält sich die Rippen, weil es ihm offensichtlich Schmerzen bereitet, aber es schüttelt ihn zu sehr. „Du bist eifersüchtig! Du bist neidisch!", presst Renoir zwischen den Krämpfen hervor. „Auf mich oder auf sie?"

Das kann nur sein Todesurteil bedeuten. Doch bevor mein Vormund reagiert, bricht im Hintergrund Tumult aus. Nigel und Ronen haben sich wohl schnappen lassen und werden nun ebenfalls in den Kreis aus schaulustigen Unterweltlern verfrachtet. Der Amerikaner springt sofort wieder auf, die Fäuste geballt und bereit jedem Luftlöcher in die Zahnreihen zu schlagen, der ihm zu nahe kommt. Der Sohn der Sekretärin dagegen versucht meinen Vormund zur Kapitulation zu überreden, erntet lediglich einige Pfiffe. Es kann nicht mehr lang dauern, bis auch der Rest der „Gruppe Ylaine" mitsamt Verstärkung ankommt. Unschlüssig schiele ich zu dem Treppengang, der wenige Meter entfernt in die Wand gehauen und mit einem dekorativen Rundbogen versehen wurde. Er führt direkt in den großen Saal. Die Überwindung fällt schwer. Umso leichter fällt es mir, als ich endlich unten bin, mich behutsam an der Wand entlang zu schieben und einen neuen Aussichtsposten hinter einer der Säulen zu finden, die den Rundgang stützen. Wieder fordert mein Vormund Ruhe. Meine verschwitzten Finger umklammern den Beutel mit den Manuskripten und der Festplatte. Dass bloß meine Beine jetzt nicht nachgeben!

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