Die Geschichte einer Flucht

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Während Nigel über seine Vergangenheit nachdachte und sich um seine Zukunft sorgte, wurde es langsam Nacht. Ein Schatten schob sich vorsichtig an einer niedrigen Mauer entlang und harrte aus, bis ein Mannschaftswagen vorbeifuhr, an den er sich festklammerte, um so auf das Gelände zu kommen. Das Auto parkte in einer Garage und die beiden Beamten freuten sich bereits auf ihren Feierabend, als sie ausstiegen. Einer von ihnen war eine Frau und verschwand sogleich in der Damenumkleide, dem anderen folgte der Eindringling auf die Toilette. Er versetzte dem Polizisten einen gezielten Schlag auf die richtige Stelle, sodass er bewusstlos zusammenbrach. Der Rest war relativ einfach. Kurz darauf marschierte der Schatten in Uniform und mit dem Zentralschlüssel in der Hosentasche in Richtung Zellentrakt. Jovial grüßte er den Nachtwächter und spendierte ihm Kaffee aus dem Automaten mit einer Extrazutat.

Erst als das friedliche Schnarchen durch den Gang tönte, wagte der junge Mann es, seinen Weg fortzusetzen. Diesmal gelangte er ohne weitere Umschweife oder Hindernisse zu dem gesuchten Insassen. Lautlos schlich er sich an Nigel heran. Eigentlich wollte er ihn gar nicht retten, nicht so einen! Aber es ging nicht anders. Er hatte die Berichte der Informanten gelesen und bereits einige Zeugenaussagen gehört. Eine Schwerverletzte zu bedrohen war wirklich das Letzte, vor allem wenn man ihr sein Leben zu verdanken hatte. Umso höher war Ylaine in seiner Achtung gestiegen, als sie trotzdem tapfer an dem Plan festgehalten und den Idioten mitgeschleift hatte. Außerdem wusste er, was Nigel verbrochen hatte, bevor ihn Tellings Leute hergeschleppt hatten.

Der Einbrecher schüttelte sich und zog eine wütende Grimasse, atmete tief durch, um dann wenigstens die Spur eines Lächelns zustande zu bringen, bevor er ins Licht trat.

„Was willst du hier?" Er konnte sehen wie der Adamsapfel des Gefangenen auf und ab hüpfte, blickte voller Genugtuung in vor Schreck geweitete Augen. Ganz langsam zog er den Schlüsselbund hervor und suchte den passenden heraus. Nigel schien sich auf das Schlimmste gefasst zu machen und wich zurück, wobei seine Augen hastig den Raum nach etwas waffenähnlichem absuchten. Außer einer Zahnbürste und einer kleinen Lampe, die fest mit dem Tisch verschraubt war, gab es jedoch nichts.

„Was willst du? Bist du einer von Telling?", fragte er abermals mit unnatürlich hoher Stimme, die stark an Mickey Mouse erinnerte, während Ronen den Schlüssel im Schloss herumdrehte und die Tür sich mit einem leisen Schaben öffnete.

„Jetzt mach dir nicht ins Hemd, du Würstchen. Ich soll dich hier herausholen, Befehl von der Sekretärin. Sie meint hier würdest du nur allzu leicht an den Falschen geraten. Die Leute von der Mafia schrecken wirklich vor gar nichts zurück... Man hört grausame Sachen", erklärte Ronen im Plauderton und packte Nigel am Arm. Dabei blitzte ganz unschuldig eine Klinge auf.

„Solltest du allerdings auf dumme Gedanken kommen, werde ich für nichts garantieren. Genau genommen will sie dich lebendig, nicht unversehrt..."

Zähneknirschend erhob sich Nigel. Handschellen klickten. „He, was soll der Scheiß? Mach sofort die Dinger los!", protestierte er. Doch Ronen erklärte ihm gelassen, dass dies die einzige Chance sei, unauffällig hier raus zu kommen. „Ein Gefangenentransport fällt weniger auf, als jemand in Uniform, der fröhlich pfeifend und Hand in Hand mit einem Gefangenen durch die Tore spaziert. Also benimm dich wie ein armer Tropf, der einfach in ein anderes Revier verlegt wird!"

Tatsächlich nahm kaum jemand Notiz von dem Duo. Schließlich war es spät in der Nacht und die diensthabenden Polizisten wollten ihre Schicht einfach ohne große Komplikationen hinter sich bringen, um anschließend in ein kuscheliges Bett zu schlüpfen.

Draußen angelangt wandte sich Ronen nach rechts, um die Treppe hinauf zu den Fußgängerwegen auf der anderen Seite zu gelangen. Bevor sie hochstiegen, hielt er Nigel zurück. „Wir werden jetzt eine kleine Geschichte inszenieren. Hier ist auch zur Nachtzeit noch einiges los. Am unauffälligsten und schnellsten kommt man hier voran, wenn man sich in einer Erzählung befindet. Es geht nach der Biegung dort hinten eigentlich immer geradeaus zu den schwebenden Gärten. Ich werde dich verfolgen mit allem Drum und Dran. Wenn wir die Gärten erreicht haben, kann nichts mehr schief gehen. Das ist der einzige Ort, der wirklich kontrollierbar ist und somit sicher, verstanden? Und versuch ja nicht tatsächlich zu flüchten. Die Sekretärin findet dich überall und dann hast du ein Problem!"

Nigel nickte. Offenbar blieb ihm nichts anderes übrig, als dem idiotischen Plan dieses Ronen zu folgen. Es war wie mit Ylaine. Wer sich auskannte, hatte den Trumpf in der Hand. Außerdem war die Aussicht auf ein bisschen ungefährliche Action tatsächlich verlockend. Wenn sie jemand aufhielt, würde er Ronen sehen, den Beauftragten der Chefin und keiner würde an der Richtigkeit ihrer Unternehmung zweifeln. Geschichten; sie öffneten einem in dieser Welt nahezu jede Tür. Auf ein Zeichen lief er mit einem übertriebenen „Du kriegst mich nie, Bulle!" los. Oben auf dem Bürgersteig spaltete sich die Menge, als beide mit großem Getöse die Verfolgungsjagd starteten.

Die Versuchung einfach zu entwischen, einfach irgendwo abzubiegen und unterzutauchen, war groß... bis eine Streife Nigel am Arm zurückriss. Hektisch schaute er sich nach Ronen um, der seine Schritte verlangsamte und äußerst finster dreinblickte. „Was soll das denn jetzt?", blaffte er den älteren „Kollegen" an und gestikulierte wild. „Platz nicht einfach in die Geschichte anderer Leute rein! Oder willst du mitmachen?"

„Tut mir Leid, aber mir war kein Event dieser Art bekannt!", entgegnete der Polizist plump und lockerte den Griff. In einem spontanen Anfall epischer Inspiration, riss der Flüchtling sich theatralisch los, brüllte den zweien im Spurt zu, dass sie seinen Schatz nie in die Hände bekämen und verschwand in der Menge. Ronen schaltete natürlich und war sofort wieder auf Tuchfühlung. Der andere jedoch schien sich in eine so anstrengende Geschichte nicht einmischen zu wollen und rief nur „Viel Glück" hinterher.

Seine Lunge brannte bereits, als er endlich die Wendeltreppen und Pfeiler erreichte, an denen man die schwebenden Gärten erkannte. Er wartete auf Ronen, der bitter grinsend, mit hocherhobenem Kopf an ihm vorbei schritt und ihn am Arm mitzerrte. „Ich rate dir dort oben zu bleiben. Da kannst du warten. Essen gibt es genügend und lauschige Plätzchen zum Übernachten ebenfalls. Komm morgen wieder an diese Treppe. Dann werde ich Ylaine hoffentlich aus dem Krankenhaus geholt und hergeschleppt haben."

FederlesenWhere stories live. Discover now