Kurs auf die Hauptstadt

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„Ab an Bord mit euch!", kommandierte der Kapitän, als hätte er seinen großzügigen Augenblick. „Wir legen ab, Männer! Segel hissen und auf nach Epizentrum!" Nigel stolperte mit Ylaine auf den Armen die Planke empor. Die Strömung trug sie rasch fort und die heraneilenden Verfolger wurden kleiner, verschwanden hinter der ersten Flusswindung. Ausgeliefert dem Wind und den Piraten... Über ihnen flatterte, sichtbar für jeden die Flagge: zerschlissenes Schwarz und ein Totenschädel hinter gekreuzten Federn. Der Eindruck des Toten vom Schiffsbug legte sich auf alles, was die beiden Gäste erspähten. Das geschäftige Pfeifen der Crew erschien plötzlich niederträchtig. Das milde Lächeln des Steuermannes wartete nur darauf, sich in nächtliche Alpträume einzuschleichen und dann war da noch das lauernde Klacken des Kapitänholzbeins.

Nigel entließ sie vorsichtig aus seinen Armen und hielt kurz darauf Ylaines Messer an die Kehle eines Maats. „Bevor ich an die nächste Räuberbande gerate, will ich wissen, was mit dem toten Bugschmuck los war? Ich denke auf eurem ach so wunderbarem Inselparadies, das ihr euch vorgaukelt, wäre so etwas verpönt!", krächzte er, hatte jedoch die Rechnung ohne das Holzbein gemacht. Japsend hielt er sich das Knie, während der Kapitän ihm das Messer aus der Hand nahm und den bedrohten Seemann wegzerrte. „Nicht so, Freundchen!", bellte er.

Man mochte kaum glauben, dass sich die wettergegerbten Züge noch mehr verhärten konnten. Nun sah er aus, als habe man einen Stein behauen und mit tiefschwarzen, böse funkelnden Kohlestücken besetzt. „Vielleicht hilft es, dass nicht wir ihn getötet haben."

Ylaine atmete auf.

„Es war das Wasser!" Seine Stimme war ein lautloser Donnerschlag, eine Klinge, die Diamant spaltete, purer Hass in einer eisig brennenden Welt.

„Ihr habt ihn lebendig an das Schiff..." Ylaine taumelte zurück. Das Bein trug sie nicht. Reglos blieb sie auf dem Boden hocken, schaute mit schreckgeweiteten Augen auf den Kapitän. Ihr war, als spürte sie den Schmerz des Mannes am Grund des Flusses. In ihrer Vorstellung brandete Wasser immer wieder gegen ihre Brust, peitschte ihr ins Gesicht und ertränkte sie jedes Mal ein kleines Stück. Grausam sprudelte es um sie herum, drang in ihre Lungen, ließ sich runterschlucken oder ausspucken, schäumte verheerend, als wüsste es, dass sie nicht ewig standhalten würde. Ausgekugelte Schultergelenke und der harte Bug marterten sie langsam.

Zitternd nahm sie Nigels Hand und zog sich hoch. Sie suchte nach Anzeichen des Bedauerns, doch der Seebär blieb hart. „Halt mich ruhig für grausam, aber was dieser Schalk im Auftrag dieser Giftnatter verbrochen hat, ist um ein Vielfaches abartiger. Ich erspare dir die Geschichte."

Ohne weitere Erklärung humpelte er davon, um den Steuermann abzulösen. Ylaine wandte sich an Nigel, wollte etwas sagen, blieb jedoch stumm. Der Hüne stierte zerknirscht auf den leeren Fleck vor sich. Seine Hände öffneten und schlossen sich, der Atem beschleunigte. Blitzte dort Erkenntnis auf?

Die Landschaft zog an ihnen vorbei. Dunkelheit legte den Tag zur Ruhe. Schatten begleiteten das Schiff und die Crew, während sie den Shoshis oo entlangsegelten. Manchmal schaute der Mond zwischen den Wolken hervor und Fledermäuse zogen vorbei. Ruhe breitete sich aus und Ylaines Gedanken glitten hinüber zu dem ausgebrannten Dorf, das wohl aus seinem Totenschlaf gerissen worden war. Wenigstens stieg nirgendwo Qualm auf und vielleicht waren Tashar und Henrike sogar entkommen.

Einige Seeleute stimmten Lieder an. Sie saßen um ein streng gehütetes Feuer mit abgegriffenen Instrumenten und wiegten sich im Takt der Musik, die viel zu schwermütig vom Wind über Bord getragen wurde. Eine Frage gärte in ihr, auf die es noch keine Antwort zu geben schien. Was war aus dem Traum des Schriftstellers Setzer geworden, dem „Gründer" der Insel? Wann hatte sich das Gift in die Adern der Insel geschlichen?

Einsam stand der Kapitän am Steuer und erst jetzt erkannte Ylaine, dass sich ein tiefer Spalt auch durch diesen harten Stein zog. Seit sie die Erzählerakademie in Cruk verlassen hatte, war sie lauter gebrochenen Gestalten begegnet, die sich verzweifelt gegen die schattenhafte Schreckensherrschaft Tellings stemmten oder bereits daran zu Grunde gegangen waren. Ihre Vorstellung vom Paradies der Geschichten und Abenteuer, an die sie sich während ihrer Schulzeit geklammert hatte, für die sie ihre Eltern immer wieder vor den Kopf gestoßen hatte, zerbröselte wie Asche zwischen den Fingern.

Am nächsten Tag neigte sich die Sonne abermals, als Nigel und Ylaine den Zielhafen sichteten. Die Seeleute ließen in sicherer Entfernung das Beiboot mit den beiden zu Wasser. Auf die Frage nach dem Preis für die Überfahrt winkte man trotzig ab. „Nur, dass du sie mir auffliegen lässt! Das genügt!"

Man brüllte Befehle und bereitete das Anlegemanöver am Hafen von Epizentrum vor, während die beiden abseits an Land gehen und zu Fuß weiterlaufen sollten. Nigel protestierte zuerst, doch der Kapitän und Ylaine wussten, dass sich im Gewimmel des Hafens zu viele Gelegenheiten für Tellings Leute boten, sie verschwinden zu lassen.

„Wir nehmen den Weg über die Fundgruben", erklärte Ylaine und musste lächeln, als sie Nigels unverständiges Gesicht bemerkte. „Du wirst begreifen, wenn du sie siehst."

Es war ein anstrengender Marsch, da sie immer noch nicht auftreten konnte und sich schwach fühlte. Bald nahm der Amerikaner sie auf den Rücken. „Du hast ein bisschen Fieber", bemerkte er beiläufig. Sie schnaubte nur abweisend. So kurz vor dem Ziel würde sie bestimmt nicht schlapp machen. Quälend langsam kamen sie vorwärts. Zumindest schien es so. Immer wieder suchte sie die Umgebung ab, konnte aber keine Verfolger entdecken. Vor ihnen lagen bereits die äußeren Bereiche Epizentrums, allesamt einfache Häuser, mittelalterlich und fast schon primitiv. Bis man sie jedoch erreichte, musste man noch eine ganze Strecke zurücklegen.

Überall waren Löcher in der Erde, manche eng und tief, andere so groß wie Gebäude. Nigel glaubte sich in einer Kraterlandschaft auf dem Mond wiederzufinden. Dieses verfluchte Land würde ihn noch das letzte Bisschen Verstand kosten. „Dahinten", flüsterte Ylaine plötzlich nahe an seinem Ohr. Er blickte zurück und erkannte Leute, die schnell näher kamen. Er lief weiter, beschleunigte, keuchte, rannte. Ylaine klammerte sich fest an ihn. Überall lag Geröll. Er musste Haken schlagen. Der Abstand wurde geringer. Wie nah waren sie? Er schaute kurz zurück und trat ins Leere...

FederlesenWhere stories live. Discover now