... greift ein

60 9 1
                                    


Ein Luftzug streift mich. Schatten fallen von der Decke. Menschen stürzen zu Boden. Die großen Torflügel am Haupteingang fallen krachend aus den Angeln. Blendendes Scheinwerferlicht strömt herein, mehr als meine Augen ertragen können. Blind mit den Fingern an der Wand entlangtastend renne ich los. Hände umfassen meine Schultern. Panik! Kurzschlussreaktion: Wo Hände sind ist ein Körper dazwischen mit Weichteilen oder zumindest einem Unterleib. Doch die eine Hand löst sich, umschließt meinen Knöchel. Eine Hand, die nicht oben ist und meine Faust aufhalten kann. Ich spüre Schmerz und die Nase meines Gegners an meiner Faust. Ich winde mich raus, stolpere weiter und versuche Schemen auszuweichen.

Zu viel Lärm, zu viel von allem. Ich verliere die Orientierung. Mein Blut rauscht und pocht. Alles dreht sich. Ich werde zu Boden gerissen. Kann nicht mehr tun als den Beutel festhalten und mich zu einem Ball zusammenrollen. Körperteile streifen oder stoßen mich. Eine Hand packt meinen Kragen und zerrt mich hoch. „Was passiert hier?", rufe ich ihr zu. Der Lärm ebbt langsam ab, während mich die Hand vor sich her treibt. Schließlich bleiben wir stehen. Ich glaube Vren und Mephisto zu erkennen. Henrike muss diejenige sein, die mich aus dem tobenden Meer gefischt hat. Sie drückt mich auf eine Bank, meinen Rücken an die Wand gelehnt. Der Höllenfürst drängt sich an ihr vorbei. Sein Gesicht wirkt unscharf aber bekannt. Er sieht jünger aus, als ich ihn mir aus den Berichten zusammenphantasiert habe.

„Wer bist du?", fragt eine der Frauen mit ruppiger Stimme. „Balg", antworte ich ohne zu zögern.

„Pah! Das ist doch kein Name", raunzt Mephisto. „So werd ich halt genannt", entgegne ich trotzig. Für Empörung reicht meine Kraft noch aus.

„Ich hab dich noch nie hier gesehen. Und ich hab eine Zeit lang oft hier rumgehangen", bohrt er weiter.

Verbittert denke ich an die enge Stube mit zugenagelten Fenstern, wo oft der Lärm spielender Kinder, aber nie ein Sonnenstrahl hineingedrungen ist. Meine einzige Beschäftigung, das einzige, was mir beigebracht wurde und was ich durfte, war schreiben. Gedichte, Geschichten, Dramen, Komödien, Tragödien, Lieder... Auch als wir in die Unterwelt zogen, bekam ich nur selten Gelegenheit durch die Gänge des Totenreiches zu spazieren. „Ich... bin nicht oft ausgegangen", erkläre ich und kann den Gram in meiner Stimme kaum verbergen. Neben mir erklingt Holz auf Stein. Ylaine würdigt mich keines Blickes und wendet sich sofort an die anderen. Sie wirkt wütend, wütender als ich sie mir immer vorgestellt habe, aber genauso hilfsbedürftig. „Telling hat sich Renoirs Waffe genommen und droht ihn umzubringen, falls wir ihn nicht ziehen lassen. Er hat die Wand im Rücken und mir sind die Betäubungsbälle ausgegangen."

„Ja ja, lieber mit dem Rücken zur Wand, als mit dem Rücken zum Feind", knurrt Mephisto und lässt von mir ab. Ein Blick nach rechts und ich sehe meinen Vormund mit dem Schießeisen fuchteln, bemüht mit der anderen Hand Renoir als Schutzschild in Position zu halten. Ronens Spruch steigt in meinen Gedanken empor: Glaubst du, die anderen werden den Mumm dazu haben? Ein Priester, ein Möchte-gern-Teufel, eine Heilerin und eine weichherzige Erzählerin?

Plötzlich bin ich mir sicher, dass Ronen zu mir gesprochen hat, in Wahrheit nur zu mir. Obwohl er gar nichts von mir gewusst haben kann, gilt die Aufforderung mir. Ylaine steht mit dem Rücken zu mir. Ihr Revolver ragt aus einer Tasche. Ob es in dieser Geschichte doch noch einen Platz für mich gibt?

Die nächsten Sekunden verlieren sich. Ich sitze, vermutlich vom Rückstoß zurückgeschleudert, auf dem Boden. Mein Hintern schmerzt und Mein Bauch, die Aktentasche ist noch da. Menschen werfen Schatten auf mich. Jemand ruft Anweisungen. Alles ist trüb. Jemand blutet. Das Zeug ist auf meiner Kleidung. Schemen und Ohrensausen. Hab ich getroffen mit meinen schwächlichen Augen? Ich darf die Aufzeichnungen nicht verlieren.


Licht. Es brennt von der Decke und drängt durch Fensterglas herein, füllt den Raum, zu viel. Ich lege die Hand über die Augen, lasse nur kleine Häppchen hindurch. Langsam gewöhne ich mich an die Tagwelt und wage einen Rundblick. Krankenhäuser kenne ich nur von den Berichten, welche die Beobachter während Ylaines Aufenthalt angefertigt und an mich weitergeleitet haben. Unmöglich zu sagen, ob es das gleiche ist. Ein Weißkittel, wohl der Arzt, spaziert herein und redet von Bauchschuss. Dadurch fällt mir jetzt auch das Ziehen auf. Wie kam es eigentlich soweit? Schwammig schält sich ein Bild aus dem Nebel im Kopf, wirft sich an die innere Leinwand.

Ich sehe über meinen eigenen Arm und den Revolver in meiner Hand hinweg auf zwei Männer, die einander ähneln, doch nicht gleichen. Renoir der reisende Priester und Inquisitor hängt schwach und blutend im Klammergriff meines Vormunds. Ich habe tatsächlich seine Augen. Oder bilde ich mir das nur ein, weil Meister Simon es mir alltäglich unter die Nase gerieben hat? Ich erinnere mich an sein Lachen, als er nach mir gefragt wurde. Will ich meine aufkeimende Wut befriedigen oder Antworten? Schießen, nicht schießen, auf wen schießen?

Meister Simon nimmt mir die Entscheidung ab, indem er den eigenen Revolver von Renoirs Schläfe löst. Beim besten Willen, ich erinnere mich nicht, ob ich geschossen habe. Ich weiß auch nicht, ob ich es überhaupt in Erfahrung bringen möchte. Trotz aller Bemühungen scheitert das Gehirn an den letzten entscheidenden Sekunden.

„Ich hab gefragt, ob wir jemanden informieren sollen." Anscheinend hat der Arzt die ganze Zeit mit mir geredet. Ich wüsste nicht, wen es interessieren sollte, dass ein Schreiberlein im Dienst eines Verbrechers womöglich benötigte Betten blockiert. Genau das möchte ich gerne aussprechen, doch so einfach mir die Worte auf Papier purzeln, so hartnäckig zieren sich meine Stimmbänder die entsprechenden Töne zu produzieren. Geredet habe ich in der Vergangenheit recht selten, wenige Sätze mit einer sauertöpfischen Nonne, die für meine Verpflegung zuständig war.

„Nein, Meister", krächze ich. Irritiert beobachte ich, wie der Doktor herzhaft auflacht. „Doktor reicht völlig und mein Name ist Jonathan Brieszc", beschwichtigt er, „und jetzt würde ich deinen Namen gerne erfahren." Hatte man mir je einen Namen gegeben? Von ihm hatte ich jedenfalls keinen erhalten. Er wollte, dass ich ihn mir verdiene, dass ich zuerst die Sünde reinwasche, in der ich geboren war. Ratlos schaue ich den Arzt an. „Ich kenne keinen Namen. Man hat mich entweder Du oder Balg gerufen." Ich ernte Stirnrunzeln. Kurze Zeit später eilt Dr. Brieszc weiter zum nächsten Patienten.


FederlesenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt