Entführung im Wall

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Nun mischte sich das Mütterchen in die Unterhaltung ein: „Sobald ihr auf dem Wall seid, habt ihr es geschafft. In der engen Straße sind aus Sicherheitsgründen keine Geschichten zulässig. Außerdem könnt ihr in der Menge untertauchen. Problematisch ist allein der Aufstieg. Die Fahrstühle werden überwacht und ich wette, die Halunken haben ihre Männer dort postiert. Sie müssten nur den betreffenden Aufzug lahmlegen und ihr säßet in der Falle. Ihr müsst die Treppen nehmen. Die sind zwar ebenfalls gesichert aber solange euch niemand erkennt, müsst ihr euch keine Sorgen machen."

Die Truppe nickte, wobei man Ylaine immer wieder besorgte Blicke zuwarf. „Jungs, keine Sorge wegen meines Beins. Dank Mephistos Kostümvorschlägen muss ich nicht einmal laufen."

„Und die Vorschläge wären?", fragte Ronen skeptisch.

Das Mütterchen zog kommentarlos einige Mullbinden hervor und eine Maske, wie sie den ägyptischen Pharaonen aufs Grab gelegt wurde. Für die anderen gab es ägyptische Trachten mit Göttermasken. „Das ist nicht Euer Ernst!" Der Aufschrei kam von Ylaines Begleitern, als die Erzählerin sich bereits umwickeln ließ. „Wie soll sie denn da noch Luft kriegen?" Mephisto winkte ab und erklärte den Unwissenden die Funktionsweise.

„Die Maske ist wie eine Taucherausrüstung aufgebaut. Unter dem Transportsarkophag gibt es eine Sauerstoffkammer. Oder habt ihr ernsthaft gedacht, wir würden den ganzen Aufwand betreiben ohne an so etwas zu denken? Wir werden voran gehen und ein paar unserer Leute werden Ylaine hinauftragen."

Schließlich lag Ylaine mit Binden umhüllt und unter einer schweren Maske versteckt in der Kiste. Ein letztes Mal versicherte sich die alte Frau, dass tatsächlich alles am richtigen Platz war, bevor der Deckel aufgesetzt wurde. Sie konnte sich keinen Millimeter rühren. Die Dunkelheit schwankte, während dumpfes Ächzen und Kommandos hineindrangen. Sie schloss die Augen, um die Enge fortzuschieben. „Stell dir Weite vor", befahl sie ihren panisch werdenden Gedanken. Krampfhaft beschwor sie die Erinnerungen an die epianischen Küsten herauf.

Plötzlich kam ihr Vehikel mit einem Ruck zum Halten. Waren sie schon da? Aber so viel Zeit konnte unmöglich vergangen sein. Als wenn es einen Unterschied in der Enge machen würde, versteifte sie sich. Ylaine versuchte noch mumienartiger zu werden, als der Deckel aufgeschoben wurde und das einfallende Licht ihre Augen zu überrollen schien. Worte wurden gewechselt. Man schloss den Sarkophag wieder und erneut spürte sie den schaukelnden Rhythmus ihrer Träger.

Draußen wurde es laut. Ohne Vorwarnung geriet das Schaukeln ins Wanken und gipfelte in einem – anscheinend von Flüchen begleitetem – Schütteln. Sie wurde mal auf die eine, dann auf die andere Seite geworfen. Hatte ihr die Enge zuvor Unbehagen bereitet, begann sie nun jeden Millimeter Leere zwischen den Wänden und sich zu verfluchen. Jeder Aufprall hallte schmerzhaft in Schulter und Bein wieder. Dann kamen Treppen. Sie glaubte kopfüber aus dem Sarg zu rutschen. Die Rufe wurden lauter, erinnerten entfernt an Gekläffe. Verfolger!

Ein Ruck und plötzlich nichts mehr. Ein dumpfes Geräusch fand den Weg herein, als sie abgestellt wurde. Noch mehr Stimmen und das Gefühl wieder angehoben zu werden. Fuhren da Hände über den Deckel? Durch Totenstille trug man sie. Aber wohin? Ylaine versuchte verzweifelt irgendetwas zu hören aber es gab nur Schritte. Tapp, tapp. Ein leises Quietschen, sicherlich eine schlecht geölte Tür im Inneren des Walls. Man setzte sie abermals ab. Stille.

Ein Knall entlockte ihr einen spitzen Schrei. Die Tür, jemand hatte sie geschlossen. Noch eine Geräuschsexplosion... drei weitere folgten. Etwas plumpste auf den Deckel. Sogar in der pechschwarzen Dunkelheit glaubte sie Blut zu sehen, das sich hinein fraß. Kurz flackerte heißeres Gelächter auf und dumpfe Befehle wurden gegeben. Sie schloss die Augen. Als ob es einen Unterschied gemacht hätte. Ihre Fäuste öffneten und schlossen sich wie ein mühsam unterdrückter Pulsschlag des Wahns. Mehr konnte sie nicht tun. Ihre Wangen wurden heiß, Angst und Adrenalin.

Gleichzeitig bemerkte sie, wie stickig es plötzlich war. Hantierte dort jemand an der unteren Klappe, wo der Sauerstoff verstaut war? Klopfgeräusche setzten ein, wanderten am Sarkophag entlang. Wenn ihr mich töten wollt, dann klappt den verfluchten Deckel hoch und erschießt mich gefälligst! Sie schrie nicht. Es hätte keinen Unterschied gemacht. Wenn sie sich nicht selbst befreien konnte, war sie ausgeliefert und der dort draußen wusste es. Sie zerrte an den Bandagen, verrenkte sich beinahe die Finger. Ruhig atmen und so wenig wie möglich, befahl sie sich. Die verdammte Hand war zu einem nervtötenden Kratzen übergegangen. Man flüsterte miteinander. Ein Schleifgeräusch verriet, dass womöglich die Leichen ihrer Träger weggeschafft wurden.

Die Chefstimme verstummte auf einmal. Der Sargdeckel knarrte erleichtert, als jemand sich erhob. Es gab wohl Neuigkeiten, keine guten. Sie hörte ein röchelndes Winseln. Ein Wort hallte laut und deutlich von den Wänden „Idiot!" Es polterte ein paar Mal. Die Mullbinden machten keine Anstalten sich zu lockern. Entsetzt stellte sie fest, dass ihre Lungen schmerzten, weil sie kaum noch Sauerstoff bekamen.

Dann wurde es hell. Licht überflutete die Dunkelheit und frische Luft, die Ylaine gierig aufschnappte, strömte hinein. Erst als die Maske entfernt wurde, bemerkte sie, wie schwer sie auf ihr Gesicht gedrückt hatte. Langsam gewöhnten sich ihre Augen an das immer noch überwältigende Schummerlicht. Starke Hände zogen sie hoch, dass sie aufrecht an der Kopfwand des Sarges lehnte. Man gab ihr Wasser. Sie trank. Erst dann betrachtete sie die verschwommene Figur, die ihr gegenüberstand.

Es war nicht Renoir. Aber es war die gleiche hagere Gestalt, die einen unaufmerksamen Zuschauer getäuscht hätte. Auch im Kreise seiner Hörigen trug er das goldene Kreuz auf seiner Brust zur Schau. Hastig verborgener Ärger blitzte auf, wann immer sein Blick über Ylaines Schulter zu seinen Lakaien wanderte.

„Gott zum Gruße." Die Formel kroch wie auswendig gelernt über die Lippen. Mehr halbherzig schlug er das Kreuz und ließ die Hand sinken.

„Mit Verlaub", entgegnete Ylaine heiser, „Ihr seht eher aus, als hätte Euch der Teufel auf die Schulter geklopft!" Der Gottesmann machte eine abwehrende Geste. Sie drehte den schmerzenden Kopf und nahm die lauernden Schläger zur Kenntnis, die gerade wieder zu unbeteiligten Salzsäulen erstarrten. Der Pfaffe machte einen Schritt, dann noch einen. Langsam und bedächtig umkreiste er den Sarg.

„Du hättest besser daran getan, den Amerikaner seiner gerechten Strafe zu überlassen. Er hat schlimme Sünden begangen", belehrte er. Sie zuckte mit den Schultern.

„Das höre ich nicht zum ersten Mal. Aber was ist mit Euch? Nach allem, was Ihr Euch in Tellings Auftrag", da schmunzelte der schwarze Mann hinter ihrem Rücken und sie sah es nicht, „erlaubt habt, braucht Ihr mehr als dieses Leben, um Euer Seelenheil und Gottes Gnade zurückzugewinnen."

„Gott?", blaffte er. „Der ist ein Nichts. Satan ist der Herr über uns! Ich bekämpfe ihn mit all meinen Mitteln. Ich setze alles aufs Spiel, diese Welt zu reinigen!" Er packte seine Gefangene grob am langen Haar. „Du weißt nicht, was hier vorgeht! Du bist so unschuldig, so naiv..." Die letzten Worte hauchte er mit einem Seufzer in ihr Ohr.



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