Ins Schlangennest

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Natürlich nahm Ylaine Totsis Herausforderung an. Allerdings hatte sie keinerlei Erfahrung mit dem beißenden, sengenden Tier, dass sie nun zähmen sollte. Schließlich tauchte einer der Feuerspucker mit einem gefüllten Kanister auf. „Tauch sie rein, dann entflammen sie leichter", erklärte er, „aber zuerst musst du lernen mit dem beißenden Element umzugehen!"

Er entzündete eine Fackel, hielt sie vor sich. Da sie nicht wusste, was zu tun war, harrte sie mit mulmigen Gefühl im Magen aus. Kurz die Hand in eine Flüssigkeit getaucht, packte er die Fackel am brennenden Ende, hielt sie einige Sekunden fest. Dann fasste er wieder den Griff, schob ihr den Eimer hin und wartete darauf, dass sie es nachahmte. Zögerlich tauchte sie die Hand ein und biss die Zähne zusammen, näherte sich langsam der zuckenden Flamme. Doch der Schutzfilm zerfiel, weil sie nicht schnell genug war. Kaum hatte sie das lodernde Licht erreicht, schrie sie vor Schmerz auf – zum zweiten Mal innerhalb eines Tages. Sie zog die Hand zurück und tauchte sie erneut ein. „Du musst schnell sein. Überliste den Flammendämon. Wenn er nicht bemerkt, dass du da bist, weckst du auch seinen Zorn nicht."Totsi, die sich gerade verknotete, schaute selbstzufrieden zu, wie Ylaine ihre Wunden leckte.

Es war bereits später Abend und das Ziel der Reise nur noch einen halben Tagesmarsch entfernt, als sie ein halbes Dutzend Feuerbälle tanzen ließ, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Zwischen Bäumen und kleinen Felsformationen flackerten bereits die Lichter des Dorfes auf. Sie hatten ihre Lager ein wenig abseits des Weges aufgeschlagen, der jetzt da sich die Sonne herabsenkte, voll war von Gestalten, die im Zwielicht vorüber eilten. Je dunkler es wurde, desto höher schien das Verkehrsaufkommen zu werden und der unangenehm zwickende Geruch von Heimlichkeit lag in der Luft. Ylaine fragte sich nochkurz, ob Renoir wohl auch schon auf dem Weg war, rollte sich auf ihrem Lager zusammen und schlief ein.

Der nächste Tag kam viel zu früh und begrüßte sie mit heftigem Muskelkater. Um ihre Kräfte zu schonen, fuhr sie auf dem Wagen mit und malte sich unter der skeptischen Aufsicht der Granny das Gesicht weiß an. Sie fragte Groff, wie man sich am besten die Haare färben könne. Er antwortete, dass Kohle ein gutes Mittel sei und sie etwas davon mitführten. Ylaine nickte, schaute in die misstrauischen Gesichter.

"Das gehört zu meinem Charakter", sagte sie. Diese Antwort konnte in Epien alles erklären. Eigentlich hätte sie auch erklären können, dass es sich hierbei um eine uralte Religion handelte und sie so ihre enormen magischen Kräfte im Zaum hielte. Vermutlich könnte sie auch sagen, es sei ein Wetterzauber, damit es nicht anfinge zu regnen. Hier verlangte jeder eine Begründung und dabei war es egal, wie hirnrissig sie ausfiel, solange sie unterhaltsam war.

Gegen Mittag erreichten sie die ersten Ausläufer und glaubten schon in einem Bienenstock gelandet zu sein. Überall wimmelte es von... von... Leuten. Nicht alle konnten ihrem Aussehen nach als menschlich bezeichnet werden, aber das schien keinen zu stören. Spannung und Lärm lagen in der Luft, außerdem der Geruch von Mahlzeiten, die entweder auf dem Grill gequält oder in Fett ertränkt wurden. Jemand bot Sandwiches feil, die aus einem Bauchladen heraus verkauft wurden, der doppelt so breit war wie sein Träger.

Ylaine zog sich vorsichtshalber in die Artistengruppe zurück. Man konnte nie wissen, wer einem in diesem Gewimmel unauffällig hinterherglotzte. In Gärten und Hinterhöfen, teilweise sogar am Straßenrand schossen Zelte wie Pilze aus dem Boden. Die Herbergen waren allesamt überbelegt. Fremde, die einander nie zuvor gesehen hatten und sich hinterher vermutlich besser kannten als ihnen lieb war, teilten sich enge Zimmer und schmale Betten.

Einige kamen, weil sie genau wussten, was eine Großveranstaltung unter der Schirmherrschaft des Phantoms Telling verhieß, andere waren einfach neugierig und strömten aus den umliegenden Dörfern und Wäldern herbei, um hinterher prahlen zu können. Die Gaukler stoppten an einem Haus, dessen Hof noch nicht vollends mit Lagern zugepflastert war. Groff diskutierte kurz mit Granny Gray und bat sie, sich bitte zurückzuhalten, während er den Preis mit dem Herbergsleiter aushandelte.

Kurze Zeit später hatten die Artisten den Wagen abgestellt und knallbunte Planen ausgerollt, die sie mit viel Fantasie und chaotischem Feingefühl zusammenbastelten. Neben ihnen lagerte bereits eine Reisegruppe erleuchteter Eremiten, die die plötzliche Geselligkeit offensichtlich genossen. Weitaus unheimlicher wirkten dagegen die Leute, die einfach unbeteiligt herumstanden, gar nicht dazugehörten und ihre finsteren Blicke wie Geier durch die Menge schweifen ließen.

Es war noch früh und vor morgen würde das angekündigte Event nicht starten. Ylaine beschloss sich von der Gruppe abzusetzen und auf eigene Faust das Dorf zu erkunden. Anfangs schlenderte sie zum Hoftor hinaus, doch die Passanten wandten sich nach ihr um, als erwarteten sie etwas Bestimmtes. Langsam dämmerte es ihr, dass ein unlustiger Clown, der keine Scherze trieb, mehr als verdächtig wirkte.

Sie begann Händlern Gegenstände aus den Händen zu reißen und jonglierte solange, bis die fluchenden Verfolger sie einholten, um ihnen anschließend ihr Eigentum entgegenzuwerfen. Die Leute lachten, zeigten mit dem Finger auf sie, bestaunten die kleinen Tricks und Späße die sie trieb, während sie sich allmählich zum Dorfplatz vorarbeitete. Zu ihrer Linken befand sich jedoch zunächst ein anderer Platz, der Gefängnishof. Beinahe hätte sie in der Bewegung innegehalten. Am Tor zu den Verliesen stand ein Mann zusammen mit einer Gestalt in Schwarz, die Renoir glich. Aber er konnte unmöglich schneller als sie hergefunden haben. Der Kerkermeister salutierte vor ihnen und verschwand in der Dunkelheit. Die beiden anderen winkten und wirkten selbst aus der Ferne zufrieden.

FederlesenWhere stories live. Discover now