Ein Phantom namens Telling

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Renoir setzte sich schweigend zurück an seinen Platz und arbeitete weiter, die Stirn übersät von Sorgenfalten. Seine Bewegungen waren fahrig. Dann und wann segelte ein Papier zu Boden. Mehrmals setzte er dazu an ein Schriftstück zu verfassen, konnte aber keinen Anfang finden. Ylaine stand immer noch in der Mitte des Raumes und beobachtete ihn. Zum ersten Mal sah sie ihn wirklich an. Er wirkte alt, nicht zu dick, nicht zu dünn. Sein Gesicht war kantig und blass. Er trug die schwarze Tracht eines gewöhnlichen Pfaffen, von dem Kreuz sah man nur das goldene Kettchen hervorblitzen.

Langsam kam sie auf ihn zu. Er starrte weiter auf das Durcheinander am Tisch, als versuchte er krampfhaft einen Gedanken festzuhalten. „Sie beschatten uns", stellte er fest und ließ die Aussage im Raum stehen.

Was sollte sie darauf erwidern? Sie setzte sich zu ihm und schaute ihm eine Weile zu. „Was macht Ihr da?", fragte sie. Ohne aufzublicken reichte Renoir ihr ein Dokument. Es handelte sich um einen Steckbrief, von Hand geschrieben mit einer Kohlezeichnung. Auf der Rückseite hatte jemand Notizen gemacht in einer steilen Handschrift, die den Eindruck vermittelte, als drängten die Buchstaben aneinander.

„Die Verschwundenen?"

Natürlich, die Frage war dumm gewesen. Der Inquisitor tippte mit dem Füllhalter auf ein paar eingekreiste Worte. „Das ist der Ort an dem einer meiner Kollegen ihn gesehen haben will."

Er zeigte ihr weitere Protokolle und Briefwechsel, die belegten, dass die Vermissten keinesfalls irgendwo versteckt waren, sondern urplötzlich in einer anderen Ortschaft wieder auftauchten und dort lebten, als seien sie nie woanders gewesen.

„Aber was bedeutet das? Ist es eine Geschichte?", hakte Ylaine nach, der das alles äußerst seltsam vorkam.

„In keinem der Dörfer hat jemand ein solches Abenteuer angemeldet. Allerdings kam es ausgerechnet in der Nähe jener Ortschaften kurz darauf zu Todesfällen innerhalb einer Geschichte. Die Opfer kannte angeblich niemand", erklärte Renoir, „Die offiziellen Erzähler der Geschichten, beteuern nichts gewusst zu haben. Einige sind aufgrund des Schocks regelrecht zusammengebrochen. Es muss also noch einen Erzähler geben, der an allen offiziellen Stellen vorbei agiert."

„Das ist so offensichtlich das Werk dieser verfluchten Ehrlosen. Aber sie hinterlassen keine verwertbaren Spuren! Wahrscheinlich verbergen sie sich umso geschickter, jetzt wo sie wissen, dass wir sie verfolgen."

„Man wird sehen", seufzte Renoir und lehnte sich zurück.

In diesem Moment flatterte eine Taube zum Fenster hinein und ließ sich auf einer Stuhllehne nieder. An ihrem Fuß war eine Nachrichtenkapsel befestigt, die Ylaine ihr vorsichtig abnahm. Sie rollte den kleinen Zettel auf, während der Vogel ein paar Krumen Brot aufpickte und wieder losflog. Die Nachricht stammte von ihren Eltern.

Anscheinend hatte sich jemand nach ihr erkundigt, mehrmals seit sie auf Reisen war. Schließlich habe derjenige - Telling nannte er sich - eine Einladung für sie hinterlassen. Einer der vermerkten Orte lautete Little Village, der andere hatte nicht einmal einen richtigen Namen und wurde einfach Crossing genannt, weil die Einzige nennenswerte Kreuzung gleichzeitig den Dorfplatz des Ortes bildete.

Sie knallte das Papier auf den Tisch, bebend vor Wut. „Wissen Sie etwas über eine Person namens Telling, steht etwas in Ihren Unterlagen?"

Renoir runzelte die Stirn. „Er ist nicht mehr als ein Phantom. Man sagt ihm Verbindungen in hohe Kreise nach. Wo Machtgerangel ist, ist er nicht weit. Wo ein Krieg ausbricht, taucht sein Name auf, wie ein Gespenst, aber wer er ist... Keine Ahnung."

„Dieses Aas besitzt die Frechheit mich zu einer Geschichte einzuladen. Er hat sich zu der Hexenverbrennung bekannt. Er weiß, dass ich hier bin."

Wie ein gehetztes Tier lief sie auf und ab, schaute durch die Fenster, ob jemand sie beobachtete. Das ganze Dorf schien ihr plötzlich noch suspekter. Seit sie hier angekommen war, hatte man ihr Steine in den Weg gelegt. Die Garde hatte sie in der Kirche einsperren wollen, die Nonne steckte womöglich ebenfalls dahinter.

„Er spielt mit uns", hauchte sie und sah den Inquisitor flehentlich an, als könne er sie mit Gottes Hilfe vor dem unbekannten Meister, der die Fäden zog, schützen.

Renoir entgegnete nichts, bekreuzigte sich und rieb sich die Schläfen. Beinahe resigniert nahm er den Zettel, studierte ihn mehrfach. „Ich weiß mir keinen Rat. Alle Spuren verlaufen im Sand. Niemand redet mit uns. Ich habe mit den Wächtern gesprochen, die Majorana gefangen genommen haben. Sie verweigern die Aussage. Die Ermittler, die die Sekretärin aus Zerun'a geschickt hat, kommen nicht weiter."

„Ronen hat sich auch nicht gemeldet... Ich habe keinen Schimmer, wo er sich herumtreibt."

„Vielleicht solltest du die Einladung annehmen."

„Und ihm in die Hände spielen?"

„Ich glaube, er erwartet, dass wir zusammen anreisen. Auch mich erreichte eine Nachricht. Genau das gleiche wie bei deiner Freundin."

Unschlüssig spielte sie mit dem Tintenfass, bis schließlich die Finger schwarz waren.

Renoir war sich also sicher, dass dies die einzige Chance wäre, die sich im Moment bieten würde. „Aber wenn wir nicht zusammen ankommen, können wir sie vielleicht übertölpeln", schlug er vor, „Die Waldbewohner kennen Abkürzungen und könnten dich hinbringen."


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