Überfahrt zur Unterwelt

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„Schnallt euch besser an", mahnte er mit einem breiten Grinsen, das den Rückspiegel ausfüllte und ließ die Kupplung kommen. Mephisto wirkte reichlich blass und klammerte sich angestrengt am Sitz fest, während der Jeep über die holprige Piste ratterte. Nigel steuerte gekonnt um die meisten Schlaglöcher herum und allmählich wichen die Reisfelder saftigen Wiesen, auf denen sich in unregelmäßigen Abständen Baumgruppen genüsslich der Sonne entgegenreckten und mit majestätischer Geduld die Anwesenheit des Viehs in ihren erlauchten Schatten ertrugen. Die entspannt, monotone Landschaft lockerte auch die Stimmung der Reisenden. Hier einen Hinterhalt zu versuchen, wäre der Beweis für die Existenz taktischer Unterbelichtung.

Sie überquerten eine Brücke, unter der einer der vielen Zweige des Shoshis oo hindurch floss. Immer öfter kamen sie bald an den Übergängen vorbei, bis Nigel den Wagen vor einem hochgeklappten Exemplar stoppen musste. Eine kleine Familie schipperte mit ihrem Hausboot vorüber und winkte freundlich. Weitere folgten, bis die Brücke endlich wieder herunterklappte. „Nigel, weiterfahren", rief Renoir von hinten. Der Amerikaner schüttelte sich kurz, warf noch einen letzten verzückten Blick auf die kleine Bootskarawane und würgte zwei Mal den Motor ab, bevor es weiterging. Die Straße führte zum Glück nicht durch das Herzstück des weitläufigen Flussdeltas, sondern machte einen sanften Bogen, sodass sie nur noch an vier weiteren Brücken warten mussten. Das Gebirge, auf das sie stetig zuhielten, breitete sich immer weiter aus, wie ein dicker Bauch, der einen breiten Gürtel aus Wald um die massiven Hüften trug.

Einige Ortschaften blieben hinter ihnen zurück und kaum eine Stunde später tauchten sie in die Welt unter den Bäumen ein. Die Anspannung stieg merklich. Jeder Laut wurde argwöhnisch mit den Ohren abgetastet. „Halt, da vorne ist die Stelle!", zischte Mephisto. Nigel wartete bis alle ausgestiegen waren, wendete den Wagen, ließ ihn grob wenige Meter durch Gebüsch poltern und deckte ihn mit einer Tarnplane ab. Schließlich stolperte er zurück auf die Lichtung und pflückte hängengebliebenes Grünzeug von den Klamotten. Ylaine erkannte eine Ansammlung von Felsen und fühlte sich sofort an das geheime Verkehrsnetz der Panen erinnert.

Es erstaunte sie nicht, dass tatsächlich ein buntbemaltes Fabelwesen aus den Schatten trat, einen gespannten Pfeil auf die Gruppe gerichtet. Doch wieder einmal löste das Atom-und-Feder-Siegel jegliches Misstrauen in Luft auf und das Geschöpf stieß, begleitet von einer knappen Verbeugung, einen Pfiff aus. Sofort huschte und raschelte es im Geäst. Stein knirschte und mitten in der Felsgruppe tat sich ein Loch auf. Renoir stieg gemeinsam mit Henrike und Mephisto zuerst hinab. Ylaine versicherte Ronen und Nigel, dass alles in Ordnung sei. Hinter ihnen schloss sich der Spalt. Gleichzeitig sprangen die flackernden Deckenlampen an und wiesen den Weg hinab. Die beiden jungen Männer erschraken, als sich ratternd die Achterbahnwagen näherten. Renoir erklärte gelassen, dass dies der beste Weg sei, um möglichst nah an den Haupteingang Helheims, dem Versteck des falschen Tellings zu kommen.

Ähnlich wie bei Ylaines erster Fahrt, drehte sich ihr beinahe der Magen um. Doch auch der Rest purzelte ziemlich durchgeschüttelt an der Zielstation aus den Wagen. Mephisto blieb einige Sekunden flach auf der kalten Erde liegen. Faust zog ihn unsanft wieder auf die Beine: „Trödle nicht! Die anderen sind schon auf ihren Posten. Wir dürfen keine Zeit verlieren, sonst werden sie entdeckt."

Hintereinander stapften sie den schmalen Gang entlang, der immer enger wurde und sie schließlich durch einen umgekippten, ausgehölten Baumstamm ausspuckte. Ylaine musste kurz verschnaufen. Ihrem Bein ging es mittlerweile besser, doch es war immer noch recht steif und ziepte unangenehm. „Es ist nicht weit", versicherte Renoir, „man kann schon den Fluss hören."

Sie schlugen sich durchs Dickicht, das abrupt am Ufer des „Totenflusses" endete. Sie mussten noch einige hundert Schritte der Strömung folgen, bevor ein schmaler Steg auftauchte, an dem ein schwarzes Boot vertäut lag. Sofort griffen die Reisenden in ihre Taschen und ließen ihre Hände dort ruhen. Auf dem Anleger war niemand zu sehen. Etwas ratlos schauten sie sich um. „Lass uns einfach das verfluchte Boot nehmen und rüberrudern", knurrte Nigel genervt.

„Ah, ah, ah. Da ist man einmal kurz für kleine Fährmänner und schon muss man um sein Hab und Gut fürchten. In was für Zeiten leben wir nur, dass man sogar den Tod beklaut?!" Mephisto erholte sich zuerst von dem Schreck und begrüßte den Fährmann mit einer jovialen Verbeugung:

„Wie Recht du hast Kollege!

Aber sag, wurde unsereins

nicht immer schon

um Lohn und Brot belogen?


Sogar der gute Gott

- ein sonst total famoser Knabe -

betrog mich um der Wetten Gabe.

Hat den Doktor mir

- ich hab ihn schon gehabt -

aus der Hölle weggeschnappt.


Und auch dich den ewig Alten

wollte

- wenn's mich nicht täuscht -

der Orpheus schon zum Narren halten.


Das Gute nimmt sich sehr viel raus.

Was wären die denn ohne Gegner?

Doch man dankt es beiden schlecht

dem Höllenherren wie dem fahlen Knecht!"


„Ja, schon gut." Der Geselle im schwarzen Umhang winkte missmutig ab. „Das macht dann zwei Münzen pro Passagier. An diesem Schalter werden nur Ein-Fahrten-Tickets ausgegeben. Ab einer Verspätung von über einer halben Stunde kann der Fahrpreis gemindert werden. Anträge sind schriftlich in doppelter Ausführung beim Geschäftsführer vorzulegen. Zeitkarten, wie Tages-, Monats-, Studenten- oder Schülertickets sind von dieser Regelung ausgeschlossen", palierte er mit gelangweilter Stimme, „Wir bieten auch geführte Touren und Übernachtungsreisen mit attraktiven Gruppenrabatten an. Diese sind im Voraus zu buchen und können an allen Geschäftsstellen angemeldet werden. Die Helheimfähre wünscht Ihnen einen angenehmen Tag und viel Spaß in der Unterwelt, da wo es auch im Winter heiß hergeht."

„Hat jemand Kleingeld?", fragte Ronen, der hektisch und erfolglos seine Taschen durchwühlte. „Ach Quatsch!" Nigel sprang nach vorne, versetzte dem Fährmann einen Hieb in die Magengrube und noch einen auf die Schläfe. Peinlich berührt stieg die Gruppe über den Bewusstlosen hinweg an den Steg, wo das Boot gefährlich wippte. „Das war unnötig, du Rowdy", tadelte Ronen, doch Ylaine schlug sich auf Nigels Seite: „Der hätte bestimmt irgendwas versucht. Wenn er wieder aufwacht, nimmt er halt was gegen Kopfschmerzen und gut is'." „Wir haben keine Zeit für Etikette", pflichtete Fausten bei, der die Sache anscheinend kein bisschen leid tat.

FederlesenWhere stories live. Discover now